Herr Hédouin war gerade zum Einkauf von Leinwand in Lille. So wurden sie von Frau Hédouin empfangen. Sie stand da, einen Federhalter hinter dem Ohr, und erteilte zwei Ladendienern, die Stoffballen in Fächer einordneten, Anweisungen; und sie erschien Octave so groß, so bewundernswert schön mit ihrem regelmäßigen Gesicht und ihrem schlichten, glattgescheitelten Haar, so ernst lächelnd in ihrem schwarzen Kleid, von dem sich ein flacher Kragen und eine kleine Herrenkrawatte abhoben, daß er, der seinem Wesen nach doch wenig schüchtern war, zu stottern begann. Alles wurde mit ein paar Worten erledigt.
»Nun gut«, sagte sie mit ihrer ruhigen Miene in ihrer gewohnten Verbindlichkeit als Geschäftsfrau, »da Sie ja frei sind, besichtigen Sie doch den Laden.«
Sie rief einen Verkäufer und vertraute ihm Octave an; nachdem sie dann auf eine Frage Campardons höflich erwidert hatte, Fräulein Gasparine mache eine Besorgung, wandte sie sich ab, fuhr mit ihrer Arbeit fort, warf mit ihrer sanften und befehlenden Stimme Anweisungen hin.
»Nicht dorthin, Alexandre ... Legen Sie die Seidenstoffe nach oben ... Das ist nicht mehr dieselbe Marke, passen Sie doch auf!«
Zögernd sagte Campardon schließlich zu Octave, er werde wieder vorbeikommen und ihn zum Abendessen abholen.
Nun besichtigte der junge Mann zwei Stunden lang den Laden. Er fand, daß er schlecht beleuchtet, klein und mit Waren überfüllt war, die aus dem Kellergeschoß hervorquollen, sich in den Ecken stauten, so daß zwischen den hohen Mauern von Stoffballen nur überaus enge Durchgänge frei blieben. Wiederholt begegnete er dort Frau Hédouin, die geschäftig durch die schmälsten Gänge huschte, ohne je mit einem Zipfel ihres Kleides hängenzubleiben. Sie schien die lebende und ausgeglichene Seele des Hauses zu sein, dessen ganzes Personal dem leisesten Wink ihrer weißen Hände gehorchte. Octave war gekränkt, daß sie ihn nicht mehr ansah. Als er gegen drei Viertel sieben Uhr ein letztes Mal aus dem Kellergeschoß wieder nach oben stieg, sagte man ihm, Campardon sei im ersten Stock bei Fräulein Gasparine. Dort befand sich eine Wäscheabteilung, die dieses Fräulein leitete. Aber oben an der Wendeltreppe blieb der junge Mann hinter einer Pyramide aus gleichmäßig aufgestapelten Kalikoballen plötzlich stehen, als er hörte, wie der Architekt Gasparine duzte.
»Ich schwöre dir: nein!« rief er und vergaß sich dabei so weit, daß er die Stimme hob.
Es trat Stillschweigen ein.
»Wie geht es ihr?« fragte die junge Frau.
»Mein Gott, immer dasselbe. Das kommt, das vergeht ... Sie fühlt wohl, daß es jetzt aus ist. Niemals wird sich das wieder einrenken.«
Gasparine versetzte mit mitleidsvoller Stimme:
»Mein armer Freund, zu bedauern bist doch du. Da du aber schließlich auf andere Art und Weise hast zurechtkommen können ... Sag ihr, wie bekümmert ich darüber bin, daß sie stets leidend ist ...«
Ohne sie ausreden zu lassen, hatte Campardon sie bei den Schultern gepackt und küßte sie in der von der Gasbeleuchtung erwärmten Luft, die unter der niedrigen Decke bereits drückend wurde, ungestüm auf die Lippen.
Sie erwiderte seinen Kuß und murmelte: »Morgen früh um sechs, wenn du kannst ... ich werde im Bett bleiben. Klopfe dreimal.«
Octave, der wie benommen war, begann zu verstehen, er hustete und trat vor. Ihn erwartete eine weitere Überraschung: die Cousine Gasparine war vertrocknet, mager, eckig, hatte eine vorspringende Kinnlade und hartes Haar; und in ihrem erdfahl gewordenen Gesicht waren nur ihre großen, prächtigen Augen unverändert geblieben. Mit ihrer mißgünstigen Stirn, ihrem glutvollen und eigensinnigen Mund verwirrte sie ihn ebensosehr, wie ihn Rose mit ihrem späten Erblühen einer lässigen Blondine bezaubert hatte.
Gasparine war indessen höflich, doch ohne Überschwang. Sie erinnerte sich an Plassans, sie sprach mit dem jungen Mann über die Tage von einst. Als Campardon und er nach unten gingen, drückte sie ihnen die Hand.
Unten sagte Frau Hédouin zu Octave lediglich: »Bis morgen, Herr Mouret.«
Auf der Straße, wo ihn das Rollen der Droschken ganz taub machte und ihn die Passanten anrempelten, konnte der junge Mann nicht umhin zu bemerken, jene Dame sei zwar sehr schön, wirke aber nicht liebenswürdig. Auf das schwarze und schmutzbedeckte Pflaster warfen helle Schaufenster frisch dekorierter Geschäfte mit flammender Gasbeleuchtung Vierecke grellen Lichts, während alte Läden mit dunklen Auslagen den Fahrdamm durch Lücken voller Düsternis trübselig machten, Läden, die nur innen von blakenden, wie ferne Sterne brennenden Lampen erleuchtet waren. Kurz bevor die Herren von der Rue Neuve- Saint-Augustin in die Rue de Choiseul einbogen, grüßte der Architekt, als sie an einem dieser Läden vorbeikamen.
Eine schmächtige und elegante junge Frau, die sich ein Seidenmäntelchen umgehängt hatte, stand auf der Schwelle und zog einen kleinen dreijährigen Jungen an sich, damit er nicht überfahren werde. Sie plauderte mit einer alten Dame ohne Kopfbedeckung, zweifellos mit der Kaufmannsfrau, zu der sie du sagte. Octave konnte in diesem finsteren Türrahmen unter den tanzenden Reflexen der Gaslaternen in der Nähe ihre Züge nicht erkennen; sie kam ihm hübsch vor, er sah nur zwei glühende Augen, die sich einen Augenblick wie zwei Flammen auf ihn hefteten. Hinten versank der feuchte Laden gleich einem Keller, aus dem ein unbestimmter Salpetergeruch emporstieg.
»Das ist Madame Valérie, die Frau von Herrn Théophile Vabre, dem jüngeren Sohn des Hausbesitzers, Sie wissen ja, die Leute aus dem ersten Stock«, erklärte Campardon, als er einige Schritte weitergegangen war. »Oh, eine ganz reizende Dame! – Sie ist in diesem Laden geboren, eines der am besten gehenden Kurzwarengeschäfte im Viertel, das ihre Eltern, Herr und Frau Louhette, immer noch führen, damit sie was zu tun haben. Ganz hübsch haben sie da verdient, das kann ich Ihnen versichern!«
Aber Octave hatte kein Verständnis für einen derartigen Handel in diesen Löchern des alten Paris, wo ehemals ein Ballen Stoff an Stelle eines Ladenschilds genügte. Er schwor, um nichts in der Welt würde er einwilligen, auf dem Grunde einer solchen Gruft zu leben. Da müsse man sich ja schön was wegholen!
Plaudernd waren sie die Treppe hinaufgestiegen. Sie wurden bereits erwartet. Frau Campardon hatte ein graues Seidenkleid angezogen, hatte sich kokett frisiert und war sehr gepflegt in ihrer ganzen Erscheinung. Mit der Rührung eines guten Ehemannes küßte Campardon sie auf den Hals.
»Guten Abend, mein Kätzchen ... Guten Abend, mein Puttchen ...«
Und man ging ins Eßzimmer hinüber. Das Abendessen verlief reizend. Frau Campardon plauderte zunächst über die Deleuzes und die Hédouins: eine vom ganzen Viertel geachtete Familie, deren Mitglieder sehr bekannt seien: ein Vetter sei Papierwarenhändler in der Rue Gaillon, ein Onkel Regenschirmhändler in der Passage Choiseul, mehrere Neffen und Nichten seien, überall in der Umgegend verstreut, selbständige Geschäftsleute. Dann nahm das Gespräch eine andere Wendung, man befaßte sich mit Angèle, die steif auf ihrem Stuhl saß und mit eckigen Bewegungen aß. Ihre Mutter erzog sie zu Hause, das sei sicherer; und da sie nichts weiter darüber sagen wollte, blinzelte sie mit den Augen, um anzudeuten, daß die jungen Damen häßliche Dinge in den Pensionaten lernten. Soeben hatte das junge Mädchen heimlich ihren Teller schön ausbalanciert auf das Messer gestellt. Da Lisa, die servierte, ihn beinahe zerbrochen hätte, rief sie: »Daran sind Sie schuld, Mademoiselle!«
Ein gewaltsam zurückgehaltenes irres Gelächter glitt über Angèles Gesicht.
Frau Campardon hatte sich damit begnügt, den Kopf zu schütteln; und als Lisa hinausgegangen war, um den Nachtisch zu holen, sang sie eine Lobeshymne auf Lisa: sie sei sehr klug, sehr rührig, ein Pariser Mädchen, das sich stets zu drehen und zu wenden wisse. Victoire, die Köchin, die wegen ihres hohen Alters nicht mehr sehr reinlich sei, hätte man entbehren können; aber sie sei schon dabeigewesen, als Herr Campardon im Hause seines Vaters zur Welt kam, sie sei wie ein alter baufälliger Familienbesitz,