»Madame hat einen Nervenanfall, der gnädige Herr ist nicht da, die Leute gegenüber sind alle im Theater ... Kommen Sie, ich flehe Sie an. Ich bin allein, ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Valérie lag mit starren Gliedern ausgestreckt in einem Sessel ihres Schlafzimmers. Das Dienstmädchen hatte ihr das Korsett aufgeschnürt, aus dem der Busen hervorquoll. Übrigens ließ der Anfall fast sofort nach. Sie schlug die Augen auf, wunderte sich, daß sie Octave erblickte, benahm sich im übrigen wie in Gegenwart eines Arztes.
»Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr«, murmelte sie mit noch immer erstickter Stimme. »Das Mädchen ist erst seit gestern bei mir, und sie hat den Kopf verloren.«
Die vollkommene Ruhe, mit der sie ihr Korsett ablegte und ihr Kleid wieder zunestelte, setzte den jungen Mann in Verlegenheit. Er blieb stehen, schwor sich, nicht so fortzugehen, wagte jedoch nicht, sich zu setzen. Das Dienstmädchen, dessen Anblick sie zu reizen schien, hatte sie hinausgeschickt; dann war sie zum Fenster gegangen, um die von draußen eindringende kalte Luft tief einzuatmen, wobei sie den Mund in langem nervösem Gähnen weit aufriß.
Nach einem Schweigen begannen sie beide zu plaudern.
Das habe sie mit ungefähr vierzehn Jahren bekommen, Doktor Juillerat sei es müde, an ihr herumzudoktern; bald habe sie es in den Armen, bald im Kreuz. Kurzum, sie gewöhne sich daran; das sei schließlich egal, wo doch bestimmt niemand ganz gesund sei.
Und während sie sprach und ihre Glieder schlaff waren, geriet er bei ihrem Anblick in Erregung, sie wirkte herausfordernd auf ihn mit ihrem unordentlichen Aufzug, mit ihrem bleifarbenen Teint, ihrem Gesicht, das von dem Anfall verzerrt war wie von einer langen Liebesnacht. Hinter der schwarzen Woge ihres aufgelösten Haars, das ihr auf die Schultern herabfloß, glaubte er den armseligen und bartlosen Kopf des Ehemanns zu sehen. Da streckte er die Hände aus und wollte sie mit der brutalen Gebärde, mit der er eine Dirne gepackt hätte, nehmen.
»Nanu, was denn?« sagte sie mit höchst überraschter Stimme. Nun betrachtete sie ihn ihrerseits mit so kalten Augen und ohne jede Erregung, daß er sich zu Eis erstarrt fühlte und seine Hände mit linkischer Langsamkeit wieder sinken ließ, weil er einsah, wie lächerlich seine Gebärde war. Dann setzte sie mit einem letzten nervösen Gähnen, das sie im Keime erstickte, langsam hinzu: »Ach, lieber Herr, wenn Sie wüßten!« Und ohne böse zu werden, zuckte sie die Achseln, war gleichsam zermalmt von dem Gefühl der Verachtung und des Überdrusses für den Mann.
Als Octave sah, wie sie, ihre nur lose zugebundenen Röcke nachschleifend, auf einen Klingelzug zuging, glaubte er, sie entschließe sich, ihn hinauswerfen zu lassen.
Aber sie verlangte bloß Tee; und sie bestellte ihn sehr leicht und sehr heiß.
Völlig aus der Fassung gebracht, stotterte er herum, entschuldigte sich, gelangte zur Tür, während sie sich erneut tief in ihren Sessel ausstreckte mit der Miene einer fröstelnden Frau, die ein heftiges Schlafbedürfnis verspürt.
Auf der Treppe blieb Octave bei jedem Stockwerk stehen. Also liebte sie das nicht? Er hatte soeben gespürt, daß sie gleichgültig war, ohne Begierde und ohne Auflehnung, ebensowenig gefügig wie seine Chefin, Frau Hédouin. Warum sagte Campardon, sie sei hysterisch? Es war albern, daß er ihn durch Erzählen dieser dummen Geschichte getäuscht hatte; denn ohne die Lüge des Architekten hätte er ein solches Abenteuer niemals riskiert. Und er war ganz benommen über diesen Ausgang, verwirrt in seinen Ansichten über die Hysterie und mußte an die Geschichten denken, die erzählt wurden. Trublots Bemerkung fiel ihm wieder ein: bei diesen verdrehten Weibern, deren Augen wie glühende Kohlen leuchteten, wisse man nicht, woran man sei.
Ärgerlich auf die Frauen, dämpfte Octave oben das Geräusch seiner Stiefeletten. Aber die Tür von Pichons ging auf, und er mußte sich dreinschicken. Marie wartete auf ihn, sie stand in dem schmalen Raum, den die rußige Lampe schwach erhellte. Die Wiege hatte sie an den Tisch herangezogen, dort in dem Rund gelben Lichts schlief Lilitte. Das Mittagsgedeck war anscheinend auch zum Abendessen verwendet worden, denn das zugeschlagene Buch lag neben einem schmutzigen Teller, auf dem noch Radieschenstrünke waren.
»Sind Sie fertig?« fragte Octave, erstaunt über das Schweigen der jungen Frau.
Sie schien berauscht, das Gesicht war verquollen wie beim Erwachen aus einem allzu schweren Schlaf.
»Ja, ja«, sagte sie mühsam. »Oh, einen ganzen Tag habe ich dagesessen, den Kopf zwischen den Händen, und war vertieft darin ... Wenn einen das packt, dann weiß man nicht mehr, wo man ist ... Mir tut der Hals ganz weh.« Und da sie wie gerädert war, sprach sie nicht weiter von dem Buch, so erfüllt war sie von ihrer Erregung, von den verworrenen Träumereien über ihre Lektüre, daß sie schier erstickte. In ihren Ohren sauste es bei den fernen Rufen des Horns, das der Jäger aus ihren Liedern im blauen Märchenland der idealen Liebe Blies. Darauf sagte sie ohne Übergang, sie sei am Vormittag in die Kirche Saint-Roch gegangen, um die Neunuhrmesse zu hören. Sie habe sehr geweint, die Religion sei ein Ersatz für alles. »Ach, ich fühle mich jetzt wohler«, sagte sie, wobei sie tief aufseufzte und vor Octave stehenblieb.
Es trat Schweigen ein. Sie lächelte ihm mit ihren treuherzigen Augen zu. Niemals hatte er sie so nutzlos gefunden mit ihrem dünnen Haar und ihren umflorten Zügen. Aber als sie ihn weiter betrachtete, wurde sie ganz blaß, sie taumelte; und er mußte die Hände ausstrecken, um sie zu stützen.
»Mein Gott, mein Gott!« stammelte sie aufschluchzend.
Verwirrt sah er sie an.
»Sie sollten etwas Lindenblütentee trinken ... Das kommt vom zu vielen Lesen.«
»Ja, als ich das Buch zugeschlagen habe und mich allein sah, da ist mir das auf den Magen geschlagen ... Wie gut Sie sind, Herr Mouret! Ohne Sie hätte ich mir weh getan.« Unterdessen blickte er sich suchend nach einem Stuhl um, auf den er sie setzen konnte.
»Soll ich Feuer machen?«
»Danke, dabei würden Sie sich schmutzig machen ... Ich habe wohl bemerkt, daß Sie immer Handschuhe tragen.«
Und bei diesem Gedanken hatte sie wieder die erstickende Beklemmung befallen, und auf einmal ohnmächtig werdend, küßte sie, als habe es ihr Traum gerade zufällig so gefügt, ungeschickt ins Leere hinein und streifte dabei das Ohr des jungen Mannes.
Octave empfing diesen Kuß voller Bestürzung. Die Lippen der jungen Frau waren eisig. Als sie dann mit einer Hingabe des ganzen Körpers an seine Brust gerollt war, entflammte er in einer jähen Begierde, und er wollte sie nach hinten ins Schlafzimmer tragen. Aber diese so derbe Annäherung weckte Marie aus der Bewußtlosigkeit ihres Falles; der Instinkt der Frau, der Gewalt angetan wird, empörte sich, sie sträubte sich, sie rief nach ihrer Mutter und vergaß ihren Mann, der gleich heimkehren würde, und ihre Tochter, die neben ihr schlief.
»Nicht das, o nein, o nein! Das ist verboten.«
Glühend sagte er immer wieder:
»Es wird ja keiner erfahren, ich werde es niemandem sagen.«
»Nein, Herr Octave ... Sie verderben doch das Glück, das mir die Begegnung mit Ihnen verschafft hat ... Das führt zu nichts, versichere ich Ihnen, und ich hatte mir so manches erträumt ...«
Da redete er nicht mehr, er hatte eine Vergeltung zu üben, unverblümt sagte er sich im stillen: Du, du mußt dran glauben! Da sie sich weigerte, ihm ins Schlafzimmer zu folgen, drückte er sie brutal rücklings über die Tischkante; und sie unterwarf sich, zwischen dem vergessenen Teller und dem Roman, den ein Stoß zu Boden fallen ließ, nahm er Besitz von ihr. Die Tür war nicht einmal geschlossen worden, inmitten des Schweigens stieg die Feierlichkeit der Treppe herauf. Auf dem Kopfkissen der Wiege schlief friedlich Lilitte.
Als sich Marie und Octave in der Unordnung der Röcke, wieder erhoben hatten, fanden sie einander nichts zu sagen. Sie ging mechanisch nach ihrer Tochter sehen, nahm den Teller weg, stellte ihn dann wieder hin. Er blieb stumm, von