»Nein, mein Herz, für mich gibt es solche Bälle nicht mehr, auf denen es lustig ist«, erwiderte Anna, und Kitty erblickte in ihren Augen jene besondere Welt, die ihr verschlossen blieb. »Für mich gibt es nur solche, auf denen es weniger öde und langweilig ist als auf anderen.«
»Wie können Sie sich denn auf einem Balle langweilen?«
»Warum sollte gerade ich mich auf einem Balle nicht langweilen?« fragte Anna.
Kitty merkte, daß Anna im voraus wußte, welche Antwort nun folgen werde.
»Weil Sie immer die Schönste von allen sind.«
Anna besaß die Eigenschaft, leicht zu erröten. Auch jetzt wurde sie rot und erwiderte:
»Erstens ist das ganz und gar nicht der Fall, und zweitens, selbst wenn es der Fall wäre, was hätte ich davon?«
»Werden Sie diesen Ball besuchen?« fragte Kitty.
»Ich glaube, ich werde wohl nicht umhinkönnen. Da, nimm ihn«, sagte sie zu Tanja, die an einem Ringe zog, der sich leicht von Annas schlankem, an der Spitze dünner werdendem Finger streifen ließ.
»Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie hinkämen. Ich möchte Sie so gern auf einem Balle sehen.«
»Dann wird mir, wenn ich wirklich hin muß, wenigstens der Gedanke tröstlich sein, daß ich Ihnen damit ein Vergnügen mache. – Grigori, in meinem Haar darfst du aber nicht zausen; das ist auch so schon immer unordentlich genug«, sagte sie und brachte eine losgegangene Strähne in Ordnung, mit der Grigori gespielt hatte.
»Ich stelle Sie mir auf dem Balle in Lila vor.«
»Warum denn gerade in Lila?« fragte Anna lächelnd. »Aber nun, Kinder, müßt ihr gehen. Hört ihr wohl? Miß Hull ruft euch zum Teetrinken«, sagte sie, indem sie sich von den Kindern losmachte und sie in das Eßzimmer schob. »Ich weiß auch, warum Sie mich auf diesem Balle sehen möchten. Sie erwarten für sich etwas Wichtiges von diesem Balle, und da möchten Sie, daß alle dabei wären und Anteil daran nähmen.«
»Woher wissen Sie das? – Nun ja!«
»Oh, in was für einem schönen Alter stehen Sie!« fuhr Anna fort. »Ich kenne aus der Erinnerung diesen bläulichen Nebel, ähnlich wie der auf den Schweizer Bergen, diesen Nebel, der unseren Augen alles verhüllt in jener seligen Zeit, da die Kindheit eben zu Ende geht und dieser weite, glückliche, lustige Tummelplatz sich dem Dahinwandelnden immer mehr und mehr zu einem schmalen Pfade verengt; frohen Herzens begibt man sich auf diesen Pfad und doch nicht ohne Bangigkeit, mag er auch noch so sonnig und schön erscheinen. – Wer hätte das nicht durchgemacht?«
Kitty lächelte und schwieg. ›Aber wie, ja wie mag sie das durchgemacht haben? Wie gern möchte ich ihren ganzen Liebesroman kennen‹, dachte Kitty in Erinnerung daran, wie schrecklich prosaisch Annas Mann, Alexei Alexandrowitsch, aussah.
»Ja, ja, ich weiß etwas von Ihrem Geheimnisse«, fuhr Anna fort. »Stiwa hat mir davon erzählt, und ich wünsche Ihnen von Herzen Glück; er gefällt mir sehr. Ich bin mit Wronski auf dem Bahnhof zusammengetroffen.«
»Ach, war er da?« fragte Kitty errötend. »Was hat Ihnen denn Stiwa gesagt?«
»Stiwa hat alles ausgeplaudert. Und ich würde mich sehr, sehr freuen. – Ich bin gestern mit Wronskis Mutter zusammen hierher gereist«, fuhr sie fort, »und die Mutter hat zu mir ununterbrochen von ihm geredet; er ist ihr Liebling. Ich weiß, wie eingenommen Mütter oft von ihren Kindern sind, aber ...«
»Was hat Ihnen denn seine Mutter erzählt?«
»Oh, vieles, vieles! Ich weiß ja, daß er ihr Liebling ist; aber so viel ist doch sicher, daß er eine vornehme, ritterliche Gesinnung besitzt. So erzählte sie mir zum Beispiel, er habe das ganze Vermögen seinem Bruder überlassen wollen; schon als Knabe habe er eine außerordentliche Tat vollbracht, indem er eine Frau aus dem Wasser gerettet hat. Mit einem Worte: ein Held«, sagte Anna lächelnd; sie dachte dabei auch an die zweihundert Rubel, die er auf dem Bahnhofe für die Hinterbliebenen des Verunglückten gespendet hatte.
Aber von diesen zweihundert Rubeln erzählte sie nichts. Eine unwillkürliche Abneigung hinderte sie daran, dies zu erwähnen. Sie fühlte, daß in dieser Handlung etwas gelegen hatte, was zu ihr in einer persönlichen Beziehung stand und was nicht hätte sein dürfen.
»Sie hat mich sehr gebeten, sie doch zu besuchen«, fuhr Anna fort. »Ich freue mich darauf, die alte Dame wiederzusehen, und will morgen zu ihr fahren. Aber Gott sei Dank, Stiwa bleibt lange bei Dolly in ihrem Zimmer«, fügte Anna, das Gesprächsthema wechselnd, hinzu und stand auf. Kitty hatte den Eindruck, daß sie mit irgend etwas unzufrieden sei.
»Nein, ich zuerst! Nein, ich!« schrien die Kinder, die mit ihrem Tee fertig waren und nun wieder zu Tante Anna hereingestürmt kamen.
»Alle zugleich!« rief Anna und lief ihnen lachend entgegen, umarmte sie und warf sich mit diesem ganzen kribbelnden, vor Entzücken kreischenden Kinderschwarm auf den Boden.
21
Als der Tee für die Erwachsenen aufgetragen war, kam Dolly aus ihrem Zimmer. Stepan Arkadjewitsch kam nicht mit ihr; er mußte wohl das Zimmer seiner Frau durch den hinteren Ausgang verlassen haben.
»Ich fürchte, es wird dir oben zu kalt sein«, bemerkte Dolly, zu Anna gewendet. »Ich möchte dich doch lieber hier unten unterbringen; wir sind dann auch näher beieinander.«
»Ach, ich bitte dringend, macht euch doch um mich keine Sorge!« antwortete Anna und blickte dabei ihre Schwägerin forschend an, um zu ersehen, ob eine Aussöhnung stattgefunden habe oder nicht.
»Es wird dir hier nur zu hell sein zum Schlafen«, bemerkte Dolly.
»Ich versichere dir, ich schlafe immer und überall wie ein Murmeltier.«
»Wovon ist denn die Rede?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der aus seinem Zimmer kam; er wandte sich mit dieser Frage an seine Frau.
An seinem Tone erkannten sowohl Kitty wie auch Anna sofort, daß eine Aussöhnung zustande gekommen war.
»Ich möchte Anna hier unten unterbringen; aber dann müssen andere Fenstervorhänge aufgehängt wer den. Das versteht keiner ordentlich zu machen; ich muß es schon selbst tun«, antwortete Dolly, ihm zugewandt.
›Ob sie sich auch wirklich vollständig ausgesöhnt haben?‹ dachte Anna, als sie Dollys kühlen, ruhigen Ton hörte.
»Ach, mach dir doch nicht immer so viel Mühe, Dolly!« sagte ihr Mann. »Wenn du willst, so kann ich ja alles zurechtmachen.«
›Ja, sie haben sich bestimmt ausgesöhnt‹, dachte Anna.
»Das kenne ich schon, wie du alles zurechtmachst«, antwortete Dolly. »Du gibst deinem Matwei irgendwelche ganz unmögliche Anweisungen, und dann gehst du davon, und er macht dann lauter dummes Zeug«, und während Dolly das sagte, verzog sie mit ihrem üblichen spöttischen Lächeln die Mundwinkel.
›Aussöhnung, völlig, völlige Aussöhnung!‹ dachte Anna. ›Gott sei Dank!‹ Und voll Freude darüber, daß es ihr gelungen war, dies zustande zu bringen, trat sie an Dolly heran und küßte sie.
»So ist das ganz und gar nicht; warum verachtest du mich und Matwei so?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch, sich seiner Frau zuwendend, mit einem kaum bemerkbaren Lächeln.
Den ganzen Abend über hatte alles, was Dolly zu ihrem Manne sagte, eine leise ironische Färbung, wie das auch früher immer so gewesen war, und Stepan Arkadjewitsch war zufrieden und heiter, jedoch nur so weit, daß er doch dabei andeutete, er habe trotz der erhaltenen Verzeihung seine Schuld keineswegs vergessen.
Um halb zehn Uhr wurde dieses besondere