›Der Ehrgeiz? Serpuchowskoi? Die Gesellschaft? Der Hof?‹ Bei nichts vermochte er seine Gedanken festzuhalten. All das hatte früher eine gewisse Bedeutung für ihn gehabt; aber jetzt war das alles null und nichts. Er stand vom Sofa auf, zog den Rock aus, lockerte sich den Leibriemen, entblößte seine haarige Brust, um freier atmen zu können, und ging im Zimmer auf und ab. ›So wird man wahnsinnig‹, sagte er noch einmal, ›und so erschießt man sich ... damit man sich nicht zu schämen braucht‹, fügte er langsam hinzu.
Er ging zur Tür und machte sie zu; dann trat er mit starrem Blick und fest zusammengepreßten Zähnen an den Tisch, nahm seinen Revolver heraus, betrachtete ihn, drehte ihn auf die geladene Kammer und versank in Gedanken. Etwa zwei Minuten lang stand er mit gesenktem Kopfe und dem Ausdruck angestrengten Denkens, den Revolver in der Hand, da und sann und sann. ›Selbstverständlich‹, sagte er zu sich selbst, wie wenn ein längerer, klarer, logischer Gedankengang ihn zu einer zweifellos richtigen Schlußfolgerung geführt hätte. In Wahrheit aber war dieses so überzeugt klingende ›Selbstverständlich‹ lediglich die Folge der Wiederholung genau desselben Kreises von Erinnerungen und Vorstellungen, den er in dieser Stunde schon ein dutzendmal durchlaufen hatte. Es waren immer dieselben Erinnerungen an ein für alle Zeit verlorenes Glück, dieselbe Vorstellung von der Wertlosigkeit alles dessen, was ihm das Leben noch bringen konnte, dasselbe Bewußtsein seiner Demütigung. Und auch die Reihenfolge dieser Vorstellungen und Gefühle war immer dieselbe.
›Selbstverständlich‹, sagte er noch einmal, als sein Denken sich wieder zum drittenmal in diesem verhexten Kreise von Erinnerungen und Gedanken herumbewegte; er setzte den Revolver an die linke Brustseite, und indem er mit der ganzen Hand einen starken Ruck machte, als ob er sie plötzlich zur Faust zusammenballen wollte, drückte er auf den Abzug. Er hörte keinen Knall von dem Schusse; aber ein heftiger Schlag gegen die Brust warf ihn zu Boden. Er wollte sich am Rande des Tisches festhalten, ließ dabei den Revolver fallen, wankte, setzte sich auf den Fußboden und blickte verwundert um sich. Er erkannte sein Zimmer nicht wieder, als er von unten her auf die geschweiften Beine des Tisches und den Papierkorb und das Tigerfell blickte. Die schnellen Schritte des Dieners, der mit knarrenden Stiefeln durch den Salon kam, brachten ihn wieder zur Besinnung. Mit Anstrengung sammelte er seine Gedanken und begriff nun, daß er am Boden lag, und als er das Blut auf dem Tigerfell und an seiner Hand sah, begriff er auch, daß er auf sich geschossen hatte.
›Dumm! Schlecht getroffen!‹ sagte er vor sich hin und tastete mit der Hand nach dem Revolver. Der Revolver lag nahe bei ihm; aber er suchte ihn weiter weg. Bei dem fortgesetzten Suchen reckte er sich nach der anderen Seite hin, und nicht imstande, das Gleichgewicht zu bewahren, sank er blutüberströmt nieder.
Der vornehme Diener mit dem Backenbarte, der schon öfters seinen Bekannten gegenüber über seine schwachen Nerven geklagt hatte, erschrak, als er seinen Herrn auf dem Fußboden liegen sah, dermaßen, daß er ihn weiterbluten ließ und davonlief, um Hilfe herbeizuholen. Nach einer Stunde kam Wronskis Schwägerin Warja angefahren, legte mit Hilfe dreier Ärzte, zu denen sie nach allen Seiten Boten geschickt hatte und die nun gleichzeitig eintrafen, den Verwundeten auf sein Bett und blieb bei ihm, um ihn zu pflegen.
19
Der Fehler, den Alexei Alexandrowitsch dadurch begangen hatte, daß er damals, als er sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau vorbereitete, nicht auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, daß ihre Reue aufrichtig sein könne und er ihr verzeihen und sie nicht sterben werde, dieser Fehler wurde ihm als ein solcher zwei Monate nach seiner Rückkehr aus Moskau in seinem ganzen Umfange kenntlich. Aber dieser von ihm begangene Fehler war nicht nur daraus entsprungen, daß er diese Möglichkeit nicht mit erwogen hatte, sondern auch daher, daß er bis zu diesem Wiedersehen mit seiner todkranken Frau sein eigenes Herz nicht gekannt hatte. Am Krankenbette seiner Frau hatte er sich zum ersten Male in seinem Leben willig jenem Gefühle mitleidiger Rührung überlassen, das die Leiden anderer Menschen bei ihm hervorriefen und dessen er sich bisher als einer nachteiligen Schwäche geschämt hatte; und das Mitleid mit ihr und die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und ganz besonders die Seligkeit des Vergebens hatten bewirkt, daß er auf einmal nicht nur eine Linderung seiner Leiden verspürte, sondern auch eine seelische Ruhe empfand, wie er sie früher nie gekannt hatte. Er war auf einmal zu der Einsicht gelangt, daß gerade das, was die Quelle seiner Leiden gewesen, die Quelle seiner seelischen Freude geworden war. Die Frage, die ihm unlösbar erschienen war, als er richtete, verdammte und haßte, war nun, wo er verzieh und liebte, einfach und klargeworden.
Er hatte seiner Frau verziehen und sie bemitleidet, gerührt durch ihr Leiden und durch ihre Reue. Er hatte auch Wronski vergeben und Mitleid mit ihm gehabt, besonders als Gerüchte über dessen verzweifelte Tat zu ihm gelangt waren. Auch seinen Sohn bedauerte er jetzt mehr als früher und machte sich Vorwürfe darüber, daß er sich ehemals zu wenig um ihn gekümmert hatte. Aber für das neugeborene kleine Mädchen hegte er ein ganz besonderes Gefühl nicht nur des Mitleides, sondern geradezu der Zärtlichkeit. Anfangs hatte er sich nur aus Mitleid um diese neugeborene schwächliche Kleine gekümmert, die nicht seine Tochter war und die, da sie während der Krankheit der Mutter nicht die gehörige Pflege hatte, wahrscheinlich gestorben wäre, wenn er nicht für sie gesorgt hätte – und er hatte selbst nicht gemerkt, wie lieb er das Kindchen gewann. Mehrmals täglich pflegte er in das Kinderzimmer zu gehen und sich dort längere Zeit aufzuhalten, so daß die Amme und die Kinderfrau, die zuerst eine Scheu vor ihm gehabt hatten, sich allmählich an ihn gewöhnten. Manchmal betrachtete er eine halbe Stunde lang das mit flaumigem Haarwuchs bedeckte Köpfchen und das gelbrote, faltige Gesichtchen des schlafenden Kindes und verfolgte die Bewegungen der sich runzelnden Stirn und der weichen, dicken Händchen mit den eingekrümmten Fingerchen, wie sie mit dem Handrücken die Äuglein und den Nasensattel rieben. Besonders in solchen Augenblicken fühlte Alexei Alexandrowitsch sich völlig ruhig und in seelischem Gleichgewichte und sah in seiner Lage nichts Ungewöhnliches und nichts, was einer Änderung bedurft hätte.
Aber je mehr die Zeit vorrückte, um so klarer sah er ein, daß man ihn in dieser Lage nicht werde verharren lassen, mochte sie ihm persönlich jetzt auch noch so natürlich erscheinen. Er fühlte, daß außer der rein sittlichen Kraft, von der seine Seele sich leiten ließ, noch eine andere, gröbere, ebenso mächtige oder noch mächtigere Kraft obwaltete, die seinem Leben die Richtung gab, und daß diese Kraft ihm jene stille Ruhe, die ihm so lieb war, nicht lange belassen werde. Er fühlte, daß ihn alle Leute wie mit einer verwunderten Frage anblickten, ihn nicht verstanden und irgendwelchen Schritt von ihm erwarteten. Ganz besonders stark empfand er die Unnatürlichkeit und Unhaltbarkeit seines Verhältnisses zu seiner Frau.
Als die weiche Stimmung vorüber war, welche die Nähe des Todes bei ihr hervorgerufen hatte, merkte Alexei Alexandrowitsch immer deutlicher, daß Anna sich vor ihm fürchtete, sich durch seine Gegenwart belästigt fühlte und ihm nicht gerade in die Augen sehen konnte. Es war, als ob sie ihm etwas sagen wollte und sich doch nicht dazu entschließen könnte und als ob auch sie in dem Vorgefühl, daß ihr Verhältnis so nicht fortdauern könne, irgendeinen Schritt von seiner Seite erwartete.
Ende Februar erkrankte Annas neugeborenes Töchterchen, das gleichfalls den Namen Anna erhalten hatte. Alexei Alexandrowitsch war am Morgen im Kinderzimmer gewesen, hatte angeordnet, daß der Arzt gerufen werden sollte, und war dann nach dem Ministerium gefahren. Als er mit seinen Dienstgeschäften dort fertig war, kehrte er zwischen drei und vier Uhr nach Hause zurück. Im Vorzimmer erblickte er einen schöngewachsenen Lakaien in reich mit Tressen besetzter Livree, mit einem Umhang von Bärenfell; über dem Arme hielt er einen weißen Damenpelzmantel von amerikanischem Hundefell.
»Wer ist hier?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Die Fürstin Jelisaweta Fedorowna Twerskaja«, antwortete der Lakai, wie es Alexei Alexandrowitsch schien, mit einem leisen Lächeln.
In dieser ganzen schweren Zeit hatte Alexei Alexandrowitsch die Beobachtung gemacht, daß seine Bekannten aus der vornehmen Gesellschaft, namentlich die Damen, ein außerordentlich