»Nun also, bist du zufrieden?« fragte ihn Sergei Iwanowitsch.
»Sehr. Ich hätte nicht gedacht, daß das so interessant wäre! Wunderschön, ganz ausgezeichnet!«
Swijaschski trat zu Ljewin heran und lud ihn ein, in seiner Familie mit ihm Tee zu trinken. Ljewin konnte durchaus nicht begreifen und sich nicht erinnern, was ihm eigentlich an Swijaschski früher unangenehm gewesen sei und was er bei ihm vermißt habe. Er war ja doch ein überaus kluger und außerordentlich gutherziger Mensch.
»Sehr gern«, erwiderte er und erkundigte sich dann nach seiner Frau und nach seiner Schwägerin. Und infolge einer sonderbaren Gedankenverbindung, indem sich nämlich in seinem Kopfe der Gedanke an Swijaschskis Schwägerin mit dem Gedanken an das Heiraten verknüpfte, kam er zu der Vorstellung, daß er mit niemand besser von seinem Glücke reden könne als mit Swijaschskis Frau und Schwägerin, und so war es ihm denn eine große Freude, mit diesem mitzufahren.
Swijaschski befragte ihn über sein Unternehmen auf dem Lande und bestritt dabei wie immer die Möglichkeit, etwas zu finden, was in Europa noch nicht gefunden wäre; aber jetzt fühlte sich Ljewin dadurch in keiner Weise unangenehm berührt. Im Gegenteil sagte er sich, daß Swijaschski recht habe und dieses ganze Unternehmen wertlos sei, und er beachtete die bewundernswerte Milde und Zartheit, mit der Swijaschski es vermied, seine eigene Ansicht geradezu als die richtige zu bezeichnen. Swijaschskis Damen waren ganz besonders liebenswürdig. Ljewin hatte die Empfindung, als wüßten sie bereits alles und nähmen herzlich daran Anteil und wollten nur aus Zartgefühl nicht davon reden. Er saß bei ihnen eine Stunde lang, zwei Stunden, drei Stunden und unterhielt sich mit ihnen über die mannigfaltigsten Gegenstände; aber er dachte im stillen nur an das, was seine ganze Seele ausfüllte, und bemerkte nicht, daß er Swijaschskis furchtbar langweilte und daß sie längst gern sich schlafen gelegt hätten. Swijaschski begleitete ihn gähnend in das Vorzimmer, höchst verwundert über den sonderbaren Zustand, in dem sich sein Freund befand. Es war schon ein Uhr durch. Ljewin kehrte in sein Hotel zurück und erschrak bei dem Gedanken, daß er nun die noch übrigen zehn Stunden allein mit seiner Ungeduld werde verbringen müssen. Der Kellner, der den Nachtdienst hatte und deshalb wach war, zündete ihm die Kerzen an und wollte dann wieder hinausgehen; aber Ljewin hielt ihn zurück. Dieser Kellner Jegor, den Ljewin früher gar nicht beachtet hatte, erwies sich als ein sehr verständiger, netter und vor allen Dingen auch als ein von Herzen guter Mensch.
»Nun, Jegor, das ist wohl eine schwere Aufgabe, so die ganze Nacht wach zu bleiben?«
»Was ist zu machen? Das gehört nun einmal mit zu unserm Dienst. Wenn man bei einer Herrschaft ist, hat man ja mehr Ruhe; aber dafür ist hier die Einnahme besser.«
Auf Ljewins Fragen teilte ihm Jegor mit, daß er verheiratet sei und drei Knaben und eine Tochter habe, die Näherin sei und nächstens einen Handlungsgehilfen aus einem Geschäft für Pferdegeschirre heiraten werde.
Ljewin setzte bei diesem Anlasse dem Kellner Jegor seine Ansicht auseinander, daß in der Ehe die Hauptsache die Liebe sei und daß man, wenn nur diese nicht fehle, immer glücklich sein müsse, weil die Quelle des Glückes nur im eigenen Herzen sei.
Jegor hörte aufmerksam zu und verstand offenbar Ljewins Meinung vollkommen; aber um diese noch seinerseits zu bekräftigen, brachte er die für Ljewin unerwartete Bemerkung vor, er sei, wenn er bei guten Herrschaften gedient habe, mit seinen Herrschaften immer zufrieden gewesen und sei auch jetzt mit seinem Brotherrn vollkommen zufrieden, obgleich dieser ein Franzose sei.
›Ein außerordentlich guter Mensch!‹ dachte Ljewin.
»Nun, und als du dich verheiratetest, Jegor, hast du da deine Frau geliebt?«
»Aber natürlich!« antwortete Jegor.
Und Ljewin sah, daß sich Jegor gleichfalls in einem Zustande des Entzückens befand und vorhatte, ihm alle seine seelischen Empfindungen zu schildern.
»Mein Lebenslauf ist auch ein ganz wunderbarer. Von meiner Kindheit an ...«, begann er mit leuchtenden Augen; offenbar hatte ihn Ljewins Entzücken angesteckt, geradeso wie Gähnen ansteckend wirkt.
Aber in diesem Augenblicke ertönte eine Klingel; Jegor ging hinaus, und Ljewin blieb allein im Zimmer. Er hatte bei dem Mahle so gut wie nichts gegessen, bei Swijaschskis den angebotenen Tee und das Abendbrot dankend abgelehnt; aber trotzdem war ihm der Gedanke, jetzt noch etwas zu essen, ganz unmöglich. Er hatte in der vorigen Nacht nicht geschlafen, mochte aber an Schlaf überhaupt nicht denken. Im Zimmer war es kühl; aber er glaubte vor Hitze ersticken zu müssen. Er öffnete die beiden Luftklappen des Doppelfensters und setzte sich ihnen gegenüber auf den Tisch. Über einem schneebedeckten Dache war ein mit Ketten musterartig verziertes Kreuz sichtbar, das auf einer Kirchenkuppel stand, und höher hinauf das aufsteigende Dreieck des Sternbildes des Fuhrmanns mit der gelblich leuchtenden Kapella. Er blickte bald nach dem Kreuze, bald nach dem Sterne hin, atmete die frische Winterluft ein, die gleichmäßig ins Zimmer strömte, und verfolgte wie im Traum die Bilder und Erinnerungen, die vor seinem geistigen Auge auftauchten. Etwa um halb vier Uhr hörte er Schritte auf dem Seitengang und blickte aus der Tür. Es war ein ihm bekannter Spieler Mjaskin, der aus dem Klub kam. Mit finsterem Gesichte und zusammengezogenen Augenbrauen ging er hüstelnd nach seinem Zimmer. ›Der Arme, der Unglückliche!‹ dachte Ljewin, und Tränen der Liebe und des Mitleides mit diesem Menschen traten ihm in die Augen. Er wollte ihn schon anreden und ihm Trost zusprechen; aber da ihm noch einfiel, daß er nur im Hemde war, so unterließ er es und setzte sich wieder an die Luftklappe, um sich in der kalten Luft zu baden und dieses wunderlich geformte, stumme, aber für ihn so bedeutungsvolle Kreuz und den immer höher steigenden gelblich leuchtenden Stern zu betrachten. Nach sechs Uhr begannen die Dielenbohner zu lärmen; auf irgendeiner Kirche wurde zur Frühmesse geläutet, und Ljewin spürte, daß er zu frieren anfing. Er schloß die Luftklappe, wusch sich, kleidete sich an und ging auf die Straße hinaus.
15
Auf den Straßen war es noch sehr still und einsam. Ljewin ging zu dem Schtscherbazkischen Hause. Der Eingang für Herrschaften war noch geschlossen, und alles schlief. Er kehrte in sein Hotel zurück, ging wieder auf sein Zimmer und bestellte sich Kaffee. Ein Kellner, aber nun ein anderer als Jegor, brachte ihn ihm. Ljewin wollte ein Gespräch mit ihm anknüpfen; aber es wurde nach dem Kellner geklingelt, und dieser ging hinaus. Ljewin versuchte Kaffee zu trinken und steckte ein Stück Semmel in den Mund; aber sein Mund wußte schlechterdings nicht, was er mit der Semmel anfangen sollte. Ljewin spie sie wieder aus, zog seinen Überzieher wieder an und ging nochmals auf die Straße. Es war zwischen neun und zehn Uhr, als er zum zweiten Male an das Tor des Schtscherbazkischen Hauses kam. Im Hause war man eben erst aufgestanden, und der Koch ging aus, um einzukaufen. Er mußte sich noch mindestens zwei Stunden gedulden.
Diese ganze Nacht und den Morgen hatte Ljewin verlebt, ohne überhaupt an sein eigenes Dasein zu denken, und er fühlte sich von allen äußeren Erfordernissen des Lebens völlig losgelöst. Er hatte den ganzen Tag fast nichts gegessen, zwei Nächte nicht geschlafen, hatte mehrere Stunden entkleidet in der Kälte zugebracht, und doch fühlte er sich nicht nur so frisch und gesund wie nur je zuvor, sondern auch geradezu unabhängig von seinem Körper: er bewegte sich, ohne die Muskeln anzustrengen, und hatte die Empfindung, daß er schlechthin alles könne. Er war überzeugt, daß er in die Höhe fliegen oder die Ecke eines Hauses fortschieben könne, wenn das erforderlich sein sollte. Während der noch übrigen Zeit wanderte er auf der Straße umher, wobei er unaufhörlich nach der Uhr sah und sich nach allen Seiten umblickte.
Und so interessante Dinge wie