Aber wie kann ich das machen? Mein Gott, mein Gott! Ist jemals eine Frau so unglücklich gewesen wie ich? ...‹
»Nein, ich zerreiße dieses Lügennetz, ich zerreiße es!« rief sie und sprang auf. Ihre Tränen zurückdrängend, ging sie zum Schreibtisch, um einen anderen Brief an ihn zu schreiben. Aber im tiefsten Grunde ihrer Seele fühlte sie schon, daß sie nicht die Kraft haben werde, etwas zu zerreißen, nicht die Kraft haben werde, aus der bisherigen Lage herauszukommen, wie lügnerisch und ehrlos diese auch sein mochte.
Sie setzte sich an den Schreibtisch; aber statt zu schreiben, verschränkte sie die Arme auf dem Tische, legte den Kopf darauf und weinte; sie weinte mit starkem Schluchzen und mit heftigen Bewegungen der ganzen Brust, so wie Kinder weinen. Sie weinte darüber, daß ihre Hoffnung auf eine Klärung und Neuordnung ihrer Lage für alle Zeit zerstört war. Sie wußte im voraus, daß nun alles beim alten bleiben, ja noch weit schlimmer sein werde als bisher. Sie fühlte, daß die Stellung, die sie in der Welt einnahm und die ihr noch an diesem Morgen so nichtig und wertlos erschienen war, doch für sie von Wert war und daß sie es nicht über sich gewinnen werde, sie mit der schmählichen Stellung einer Frau zu vertauschen, die ihren Mann und ihren Sohn verlassen und sich mit ihrem Liebhaber vereinigt hat, und daß sie, mochte sie sich auch noch so sehr anstrengen, doch niemals stärker sein werde, als sie nun eben von Natur war. Niemals würde sie in die Lage kommen, frei und offen lieben zu können; sie würde immer die verbrecherische Gattin bleiben, die, jeden Augenblick in Gefahr, entlarvt zu werden, ihren Mann betrog, um in einer schmählichen Beziehung mit einem fremden, durch nichts gebundenen Mann zu stehen, mit dem sie niemals ein gemeinsames Leben führen konnte. Sie wußte, daß es so kommen werde, und zugleich war es ihr so entsetzlich, daß sie sich gar keine Vorstellung davon zu machen vermochte, wie das Ende sein werde. Und sie weinte, ohne einen Versuch, sich zu beherrschen, so wie bestrafte Kinder weinen.
Sie vernahm die Schritte des herbeikommenden Dieners und zwang sich zu ruhigerer Haltung. Indem sie ihm ihr Gesicht verbarg, stellte sie sich, als ob sie schriebe.
»Der Kurier bittet um Antwort«, meldete der Diener.
»Antwort? Jawohl«, antwortete Anna. »Er soll noch warten. Ich werde klingeln.«
›Was kann ich schreiben?‹ dachte sie. ›Welchen Entschluß kann ich so allein fassen? Was weiß ich? Was will ich? Was möchte ich?‹ Und wieder hatte sie die Empfindung, als ob sich in ihrer Seele etwas verdoppele. Sie erschrak wieder vor diesem Gefühle und griff begierig nach dem ersten sich darbietenden Anlasse, etwas zu tun, in der Absicht, sich von den Gedanken über sich und ihr Schicksal abzulenken. ›Ich muß Alexei sehen (so nannte sie in Gedanken Wronski); er allein kann mir sagen, was ich tun soll. Ich will zu Betsy fahren; vielleicht treffe ich ihn dort‹, sagte sie zu sich, vergaß aber dabei vollständig, daß sie ihm noch tags zuvor gesagt hatte, sie werde nicht zur Fürstin Twerskaja fahren, und er darauf erwidert hatte, daß er dann auch nicht hinkommen werde. Sie trat an den Tisch und schrieb ihrem Manne: »Ich habe Ihren Brief erhalten. A.« Darauf klingelte sie und übergab das Schreiben dem Diener.
»Wir reisen nicht«, sagte sie zu der eintretenden Annuschka.
»Überhaupt nicht?«
»Das kann ich noch nicht bestimmen; vor morgen soll noch nicht wieder ausgepackt werden. Der Wagen soll noch dableiben; ich will zur Fürstin fahren.«
»Welches Kleid soll ich bringen?«
17
Die Spielgesellschaft bei der Krocketpartie, zu der die Fürstin Twerskaja Anna eingeladen hatte, sollte aus zwei Damen und den Verehrern der einen bestehen. Diese beiden Damen waren die wichtigsten Mitglieder eines neuen, adelsstolzen Petersburger Kreises, der in Nachahmung einer Nachahmung les sept merveilles du monde genannt wurde. Der Kreis, dem diese Damen angehörten, war allerdings sehr hoch, stand aber dem, wo Anna zu verkehren pflegte, durchaus feindlich gegenüber. Außerdem war der alte Stremow, der Verehrer von Lisa Merkalowa und einer der einflußreichsten Männer in Petersburg, auf dem Gebiete der amtlichen Tätigkeit ein Gegner Alexei Alexandrowitschs. Aus allen diesen Gründen hatte Anna ursprünglich nicht hinkommen wollen, und auf diese ihre ablehnende Antwort bezogen sich die Andeutungen in dem Schreiben der Fürstin Twerskaja. Jetzt aber beabsichtigte Anna, in der Hoffnung, Wronski dort zu treffen, doch hinzufahren.
Anna kam bei der Fürstin Twerskaja früher an als die anderen Gäste.
In dem Augenblicke, als sie ins Haus trat, wollte gerade auch Wronskis Diener hineingehen, der mit seinem nach beiden Seiten auseinandergekämmten Backenbarte wie ein Kammerjunker aussah. Er blieb an der Tür stehen, nahm die Mütze ab und ließ sie vorangehen. Anna erkannte ihn, und erst jetzt fiel ihr ein, daß ja Wronski am vorhergehenden Tage gesagt hatte, er werde nicht hinkommen. Wahrscheinlich enthielt das Schreiben, das er durch den Diener schickte, seine Absage.
Während sie im Vorzimmer ablegte, hörte sie, wie der Diener, der sogar das R wie ein Kammerjunker aussprach, sagte: »Vom Grafen für die Fürstin«, und das Schreiben übergab.
Sie hätte ihn gern gefragt, wo sein Herr sei. Sie wäre gern wieder umgekehrt und hätte ihm einen Brief geschrieben, daß er zu ihr kommen möchte, oder wäre auch selbst zu ihm gefahren. Aber weder das eine noch das andere noch das dritte ließ sich ausführen: denn schon erscholl vorn das Glockenzeichen, das ihre Ankunft ankündigte, und ein Diener der Fürstin Twerskaja stand schon halb zugewandt an der geöffneten Tür und wartete darauf, daß sie in die inneren Gemächer einträte.
»Die Frau Fürstin befindet sich im Garten; es wird bereits gemeldet. Ist es vielleicht gefällig, sich in den Garten zu begeben?« meldete ein zweiter Diener im zweiten Zimmer.
Sie fühlte sich hier ganz ebenso unentschlossen und unklar wie zu Hause; ja dieser Zustand war hier sogar insofern noch schlimmer, als sie nichts unternehmen, nicht mit Wronski zusammenkommen konnte, sondern sich hier in einer fremden, zu ihrer Gemütsverfassung so wenig stimmenden Gesellschaft bewegen mußte; aber sie war in einem Kleide, das, wie sie wußte, ihr gut stand; sie war nicht allein, sondern fand sich mitten in diesem gewohnten prunkenden Getriebe des Müßigganges: und deshalb war ihr leichter zumute als zu Hause. Sie brauchte hier nicht darüber nachzudenken, was sie tun müsse. Alles machte sich ganz von selbst. Als Betsy ihr in einem weißen Kleide entgegenkam, von dessen vornehmem Geschmack sie überrascht war, lächelte ihr Anna zu wie immer. Begleitet wurde die Fürstin Twerskaja von Tuschkewitsch und einer mit ihr verwandten jungen Dame, die zur höchsten Glückseligkeit ihrer in der Provinz lebenden Eltern den Sommer bei der berühmten Fürstin verleben durfte.
Anna mußte wohl irgend etwas Besonderes in ihrem Wesen haben, da Betsy es sogleich bemerkte.
»Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete Anna auf Betsys Frage und blickte nach dem Diener, der auf die Herrschaften zukam und, wie sie vermutete, Wronskis Brief brachte.
»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Betsy. »Ich fühle mich so müde und wollte eben eine Tasse Tee trinken, bevor meine Gäste kommen. Sie könnten ja«, wandte sie sich zu Tuschkewitsch, »inzwischen mit Mascha hingehen und den croquetground probieren, da, wo der Rasen geschoren ist. Und wir beide haben noch Zeit, nach Herzenslust ein bißchen beim Tee zu plaudern, we'll have a cosy chat, nicht wahr?« wandte sie sich lächelnd zu Anna und drückte ihr die Hand, in der diese den Sonnenschirm hielt.
»Um so mehr, da ich nicht lange bei Ihnen bleiben kann; ich muß unbedingt noch zu der alten Wrede; ich habe es ihr schon seit hundert Jahren versprochen«, erwiderte Anna, der das Lügen, wiewohl ihrem eigentlichen Wesen fremd, im gesellschaftlichen Verkehr nicht nur geläufig und natürlich geworden war, sondern sogar einen gewissen Genuß