An Helenens Namenstag war beim Fürsten Wasili eine kleine Gesellschaft, der engste Kreis, wie die Fürstin sagte, zum Souper geladen, nur Verwandte und Freunde. Allen diesen Verwandten und Freunden war zu verstehen gegeben, daß sich an diesem Tag das Schicksal der Tochter des Hauses, deren Namenstag man feiere, entscheiden werde. Die Gäste saßen bei Tisch. Die Fürstin Kuragina, eine korpulente, ehemals schöne, stattliche Dame, saß auf dem Platz, der ihr als Hausfrau zukam; ihr zu beiden Seiten saßen die vornehmsten Gäste: ein alter General, seine Frau, Anna Pawlowna Scherer und andere; am anderen Ende des Tisches hatten die an Alter und Rang geringeren Gäste ihre Plätze, und ebendort saßen die Hausangehörigen, und zwar Pierre und Helene nebeneinander. Fürst Wasili aß nicht mit, er wanderte am Tisch umher, in fröhlichster Stimmung, und setzte sich bald zu diesem, bald zu jenem seiner Gäste auf ein Weilchen hin. Für einen jeden hatte er ein paar flüchtige, freundliche Worte, mit Ausnahme von Helene und Pierre, deren Anwesenheit er gar nicht zu bemerken schien. Fürst Wasili war das belebende Element der ganzen Gesellschaft. Hell brannten die Wachskerzen; es glänzte das Silber- und Kristallgerät der Tafel, die Schmucksachen der Damen, das Gold und Silber der Epauletten; um den Tisch herum liefen die Diener in roten, langschößigen Röcken; man hörte das Geräusch der Messer, Gläser und Teller und das Stimmengeschwirr der Gespräche, die am Tisch im Gange waren. Man hörte, wie an dem einen Ende der Tafel ein alter Kammerherr einer alten Baronin beteuerte, daß er sie glühend liebe, und wie sie darüber lachte; am andern Ende wurde von dem Mißerfolg einer Sängerin Marja Viktorowna gesprochen. In der mittleren Partie der Tafel bildete Fürst Wasili den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er erzählte den Damen mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen von der letzten Mittwochssitzung des Reichsrates, in welcher der neue militärische Generalgouverneur von Petersburg, Sergei Kusmitsch Wjasmitinow, ein von der Feldarmee her eingegangenes Reskript des Kaisers Alexander Pawlowitsch zur Verlesung gebracht hatte. In diesem damals Aufsehen erregenden Reskript hatte der Kaiser, sich an Sergei Kusmitsch wendend, gesagt, er erhalte von allen Seiten Ergebenheitsadressen seines Volkes, und unter diesen sei ihm die Adresse der Stadt Petersburg besonders willkommen; er sei stolz auf die Ehre, das Haupt einer solchen Nation zu sein, und werde sich bemühen, sich dieser Ehre würdig zu zeigen. Das Reskript begann mit den Worten: »Sergei Kusmitsch! Von allen Seiten gehen mir Nachrichten zu« usw.
»Also über ›Sergei Kusmitsch‹ ist er nicht hinausgekommen?« fragte eine der Damen.
»Nein, weiter brachte er fast kein Wort heraus«, antwortete Fürst Wasili lachend. »›Sergei Kusmitsch ... von allen Seiten. Von allen Seiten, Sergei Kusmitsch ...‹ Weiter konnte der arme Wjasmitinow absolut nicht kommen. Mehrere Male nahm er den Brief von neuem in Angriff; aber sowie er gesagt hatte ›Sergei‹, fing er an zu schlucken ... ›Ku...smi...tsch‹, da kamen ihm die Tränen, und die Worte ›von allen Seiten‹ wurden schon ganz von Schluchzen erstickt, und weiter konnte er überhaupt nichts herausbringen. Er benutzte sein Taschentuch und begann wieder: ›Sergei Kusmitsch, von allen Seiten‹, und da liefen ihm wieder die Tränen ... Schließlich ersuchte man einen andern, das Reskript vorzulesen.«
»›Kusmitsch ... von allen Seiten‹, und da liefen ihm die Tränen ...«, wiederholte einer der Gäste lachend.
»Seien Sie doch nicht so boshaft!« sagte Anna Pawlowna vom oberen Ende des Tisches her und drohte mit dem Finger. »Er ist doch ein so braver, ausgezeichneter Mann, unser guter Wjasmitinow ...«
Alle lachten herzlich. Auch am oberen Ende des Tisches, auf den Ehrenplätzen, schienen alle heiter zu sein und sich in angeregter Stimmung zu befinden, was sich in verschiedener Weise äußerte; nur Pierre und Helene saßen, beinah am untersten Ende des Tisches, schweigend nebeneinander; auf den Gesichtern beider lag ein strahlendes Lächeln, das sie vergebens zu unterdrücken suchten und das nichts mit Sergei Kusmitsch zu tun hatte, ein Lächeln verschämter Scheu vor ihren eigenen Gefühlen. Und was die andern Tischgenossen anlangte, mochten sie auch noch so eifrig reden und lachen und scherzen, mochten sie auch mit noch so großem Genuß den Rheinwein schlürfen und Ragout und Gefrorenes genießen, mochten sie auch mit ihren Blicken dieses Paar vermeiden und äußerlich gleichgültig und achtlos in bezug auf dasselbe scheinen: dennoch merkte man an den Blicken, die ab und zu nach den beiden hinüber flogen, daß die Anekdote über Sergei Kusmitsch und das Lachen und das Schmausen alles nur Heuchelei war, und daß die Aufmerksamkeit dieser gesamten Gesellschaft sich mit aller Kraft nur auf dieses Paar, Pierre und Helene, richtete. Fürst Wasili brachte mimisch zur Darstellung, wie Sergei Kusmitsch geschluchzt hatte, aber gleichzeitig huschte sein Blick zu seiner Tochter hin; und während er lachte, sagte der Ausdruck seines Gesichtes: »Recht so, recht so; alles geht gut; heute wird alles zur Entscheidung kommen.« Anna Pawlowna drohte ihm mit dem Finger wegen seiner Spötteleien über »unsern guten Wjasmitinow«; aber in ihren Augen, welche dabei mit schnellem Aufblitzen Pierre streiften, las Fürst Wasili ihren Glückwunsch zu dem künftigen Schwiegersohn und zu der guten Partie, die die Tochter mache. Die alte Fürstin bot mit einem trüben Seufzer ihrer Nachbarin Wein an und sagte mit diesem Seufzer, indem sie ärgerlich nach ihrer Tochter hinblickte, gewissermaßen: »Ja, meine Liebe, uns alten Damen bleibt jetzt nichts weiter übrig als süßen Wein zu trinken; jetzt ist für diese jungen Leute die Zeit gekommen, in so dreister, herausfordernder Weise glücklich zu sein.« Und jener auch hier anwesende Diplomat dachte, während er die glücklichen Gesichter der beiden Liebesleute ansah: »Wie dumm ist doch alles das, was ich da erzähle, indem ich tue, als ob ich dafür Interesse hätte! Da, das da ist das wahre Glück!«
Inmitten der kleinlichen, nichtigen, erkünstelten Interessen, die das verknüpfende Band innerhalb dieser Gesellschaft bildeten, war ein schlichtes, einfaches Gefühl zum Vorschein gekommen: zwei hübsche, gesunde junge Leute, Mann und Weib, begehrten einander. Und dieses rein menschliche Gefühl schlug siegreich alles andere nieder und schwebte hoch über all dem gekünstelten Geschwätz der übrigen Tischgenossen. Die Scherze waren matt, die Neuigkeiten uninteressant, die ganze Lebhaftigkeit sichtlich nur gespielt. Nicht nur die Tischgenossen fühlten das, sondern sogar die bei Tisch aufwartenden Diener hatten dieselbe Empfindung und begingen hier und da Versehen in ihren dienstlichen Obliegenheiten, weil sie gar zu viel nach der schönen Helene mit dem strahlenden Antlitz und nach dem roten, dicken, glücklichen und aufgeregten Gesicht Pierres hinschauten. Selbst das Licht der Kerzen schien sich nur auf diese beiden glücklichen Gesichter zu konzentrieren.
Pierre fühlte, daß er der Mittelpunkt des Ganzen war, und diese Situation machte ihm zwar Freude, doch war sie ihm auch peinlich. Er befand sich in dem Zustand eines Menschen, der in irgendeine Beschäftigung ganz vertieft ist. Er war außerstande, etwas anderes klar zu sehen, zu hören oder zu verstehen. Nur ab und zu tauchten in seiner Seele plötzlich Bruchstücke von Gedanken und Empfindungen aus der Wirklichkeit auf.
»Also nun ist alles abgemacht!« dachte er. »Wie ist das nur alles gekommen? So schnell! Jetzt weiß ich, daß dies nicht allein um Helenens willen, nicht allein um meinetwillen, sondern um aller willen mit Notwendigkeit zur Ausführung kommen muß. Sie alle sind so fest davon überzeugt, daß es geschehen wird, und warten mit solcher Sicherheit darauf, daß es mir unmöglich, geradezu unmöglich ist, ihre Erwartung zu täuschen. Aber wie wird es geschehen? Das weiß ich nicht; aber geschehen wird es, geschehen wird es unbedingt!« dachte Pierre und blickte dabei auf diese Schultern, die dicht vor seinen Augen schimmerten.
Dann wieder überkam ihn auf einmal eine Art von Schamgefühl. Es war ihm unbehaglich, daß er allein die Aufmerksamkeit aller auf sich zog, daß er in den Augen der andern als ein Glücksprinz dastand, daß er trotz seines unschönen Gesichtes gewissermaßen der Paris war, welcher Helena gewann. »Aber das ist gewiß immer so und muß so sein«, tröstete er sich selbst. »Und übrigens, was habe ich denn eigentlich dazu getan, es so weit zu bringen? Wann hat es denn angefangen? Ich bin mit dem Fürsten Wasili zusammen aus Moskau hierhergefahren. Damals bestand noch nichts. Dann habe ich bei ihm Wohnung genommen,