Auf einer der Stationen überholte er eine Anzahl von Wagen mit russischen Verwundeten. Der russische Offizier, der den Transport leitete, hatte sich auf dem vordersten Wagen bequem ausgestreckt und schrie einem Soldaten unter groben Schimpfworten etwas zu. Auf langen Leiterwagen, die auf dem steinigen Weg entsetzlich stoßen mochten, lagen je sechs oder auch noch mehr Verwundete, mit blassen Gesichtern, nur notdürftig verbunden und mit Schmutz bedeckt. Einige von ihnen redeten miteinander (er hörte, daß sie russisch sprachen), andere aßen Brot; die Schwerverwundeten blickten mit schmerzlicher, ergebungsvoller Miene und mit einem kindlichen Inte resse zu dem vorbeijagenden Kurier hin.
Fürst Andrei ließ seinen Postillion anhalten und fragte einen der Verwundeten, in welchem Kampf sie verwundet worden seien.
»Vorgestern, an der Donau«, antwortete dieser. Fürst Andrei zog seine Börse heraus und gab ihm drei Goldstücke.
»Für alle«, bemerkte er, zu dem jetzt herantretenden Offizier gewendet. »Macht nur, daß ihr bald wieder gesund werdet, Kinder«, sagte er zu den Verwundeten. »Es gibt noch viel zu tun.«
»Nun, Herr Adjutant, was gibt es Neues?« fragte der Offizier, der augenscheinlich ein Gespräch anknüpfen wollte.
»Gute Nachrichten! Vorwärts!« rief er dem Postillion zu und jagte weiter.
Es war bereits ganz dunkel, als Fürst Andrei in Brünn einfuhr. Er sah sich von hohen Häusern umgeben; von den Laternen, den erleuchteten Kaufläden und den Fenstern der Häuser ging eine schöne Helligkeit aus; über das Pflaster rasselten elegante Equipagen: kurz, er befand sich auf einmal in dem Milieu einer großen, belebten Stadt, das für einen Kriegsmann nach dem Lagerleben immer einen ganz besonderen Reiz hat. Trotz der schnellen Fahrt und der schlaflos verbrachten Nacht fühlte Fürst Andrei, als er zum Schloß fuhr, sich noch frischer und munterer als tags zuvor. Nur seine Augen leuchteten in einem fieberhaften Glanz, und in seinem Kopf lösten die Gedanken, bei außerordentlicher Klarheit, einander mit großer Geschwindigkeit ab. Schnell traten ihm wieder alle Einzelheiten des Gefechts vor die Seele, nicht mehr in undeutlicher, sondern in bestimmter Form, in einer gedrängten Darstellung, die er in Gedanken dem Kaiser Franz vortrug. Schnell vergegenwärtigte er sich die Zwischenfragen, die an ihn gerichtet werden konnten, und die Antworten, die er darauf geben würde. Er nahm an, er werde sofort beim Kaiser vorgelassen werden. Aber an dem großen Portal des Schlosses kam ein Beamter zu ihm herausgelaufen, und als er in ihm einen Kurier erkannte, führte er ihn nach einem anderen Eingang.
»Vom Korridor, bitte, nach rechts; dort finden Euer Hochgeboren den diensttuenden Flügeladjutanten«, sagte der Beamte zu ihm. »Er wird Sie zum Kriegsminister führen.«
Der diensttuende Flügeladjutant, der den Fürsten Andrei empfing, bat ihn, einen Augenblick zu warten, und ging zum Kriegsminister. Nach fünf Minuten kehrte der Flügeladjutant zurück und führte ihn, sich mit besonderer Höflichkeit verbeugend und dem Fürsten Andrei den Vortritt lassend, über den Korridor nach dem Arbeitszimmer des Kriegsministers, wo dieser, wie der Adjutant sagte, anwesend und beschäftigt war. Es machte den Eindruck, als wolle der Flügeladjutant durch seine gesuchte Höflichkeit sich vor einem etwaigen Versuch unerwünschter Familiarität seitens des russischen Adjutanten schützen. Die freudige Stimmung des Fürsten Andrei hatte, als er zur Tür des Arbeitszimmers des Kriegsministers gelangte, eine erhebliche Abschwächung erfahren. Er fühlte sich gekränkt, und dieses Gefühl der Kränkung ging in demselben Augenblick, ohne daß er selbst sich dessen bewußt geworden wäre, in ein Gefühl der Geringschätzung über, das eigentlich keine rechte Begründung hatte. Jedoch zeigte ihm sein findiger Verstand in demselben Augenblick den Standpunkt, von welchem aus er ein Recht hatte, den Adjutanten und den Kriegsminister geringzuschätzen. »Diesen Herren, die kein Pulver zu riechen bekommen, erscheint es wohl als eine sehr leichte Sache, Siege davonzutragen!« dachte er. Er kniff die Augen geringschätzig zusammen und trat mit betonter Langsamkeit in das Zimmer des Kriegsministers hinein. Dieses Gefühl wurde noch stärker, als er den Kriegsminister sah, der an einem großen Tisch saß und während der ersten zwei Minuten den Eingetretenen nicht beachtete. Der Kriegsminister hielt seinen kahlen, an den Schläfen von grauem Haar bedeckten Kopf zwischen zwei Wachskerzen herabgebeugt und las irgendwelche Papiere, auf die er mit einem Bleistift Bemerkungen setzte. Als die Tür aufging und Schritte hörbar wurden, las er, ohne den Kopf in die Höhe zu heben, das betreffende Schriftstück erst zu Ende.
»Nehmen Sie dies, und geben Sie es ab«, sagte der Kriegsminister zu seinem Adjutanten, indem er ihm die Papiere hinreichte; dem Kurier schenkte er immer noch keine Beachtung.
Fürst Andrei sagte sich, entweder habe der Kriegsminister wirklich unter allen Angelegenheiten, die ihn beschäftigten, gerade für die Operationen der Kutusowschen Armee das allergeringste Interesse, oder er halte für nötig, dies den russischen Kurier glauben zu machen. »Nun, mir kann's völlig einerlei sein«, dachte er. Der Kriegsminister schob die zurückgebliebenen Papiere zusammen, stieß sie mit den Kanten auf den Tisch, damit die Ränder genau übereinander zu liegen kämen, und hob den Kopf in die Höhe. Sein Gesicht ließ auf einen guten Verstand und einen festen Charakter schließen. Aber in demselben Augenblick, wo er sich zum Fürsten Andrei wandte, änderte sich dieser kluge, feste Gesichtsausdruck, und zwar offenbar gewohntermaßen und wissentlich; auf dem Gesicht des Kriegsministers blieb ein dummes, erheucheltes und aus seiner Heuchelei kein Hehl machendes Lächeln zurück, ein Lächeln, wie man es häufig bei Männern findet, welche viele Bittsteller einen nach dem andern zu empfangen haben.
»Von dem Generalfeldmarschall Kutusow?« fragte er. »Hoffentlich gute Nachrichten? Hat ein Zusammenstoß mit Mortier stattgefunden? Ein Sieg? Es war auch Zeit!«
Er nahm die Depesche, die an ihn adressiert war, und begann sie mit trüber Miene zu lesen.
»O mein Gott! Mein Gott! Schmidt!« sagte er auf deutsch. »Welch ein Unglück, welch ein Unglück!«
Nachdem er die Depesche durchflogen hatte, legte er sie auf den Tisch und blickte den Fürsten Andrei an; offenbar überlegte er etwas.
»Ach, welch ein Unglück! Der Sieg, sagen Sie, war ein zweifelloser? Mortier ist aber doch nicht gefangengenommen.« Er dachte nach. »Es freut mich sehr, daß Sie gute Nachrichten gebracht haben, wiewohl Schmidts Tod ein teurer Preis für den Sieg ist. Seine Majestät wird Sie wahrscheinlich zu sehen wünschen, aber nicht mehr heute. Ich danke Ihnen; erholen Sie sich. Finden Sie sich morgen nach der Parade zur Cour ein. Übrigens werde ich Sie noch näher benachrichtigen.«
Das dumme Lächeln, das während des Gesprächs verschwunden gewesen war, erschien wieder auf dem Gesicht des Kriegsministers.
»Auf Wiedersehen; ich bin Ihnen sehr dankbar. Seine Majestät der Kaiser wird aller Wahrscheinlichkeit nach den Wunsch haben, Sie zu sehen«, sagte er noch