»Ich habe doch wohl nichts zu dir gesagt, Marja, als ob ich meiner Frau irgendeinen Vorwurf zu machen hätte oder mit ihr unzufrieden wäre. Warum sagst du mir also das alles?«
Auf dem Gesicht der Prinzessin Marja erschienen rote Flecke, und sie schwieg, wie wenn sie sich schuldig fühlte.
»Ich habe dir nichts gesagt, und doch ist dir schon etwas gesagt worden. Und das betrübt mich.«
Die roten Flecke traten auf der Stirn, dem Hals und den Wangen der Prinzessin Marja noch stärker her vor. Sie wollte etwas sagen, war aber nicht imstande, es herauszubringen. Aber der Bruder erriet den Hergang: die kleine Fürstin hatte nach dem Mittagessen geweint, hatte gesagt, sie ahne eine unglückliche Entbindung und fürchte sich davor, und hatte sich über ihr Schicksal, über ihren Schwiegervater und über ihren Mann beklagt; nachdem sie sich ausgeweint hatte, war sie dann eingeschlafen. Dem Fürsten Andrei tat seine Schwester leid.
»Eines kann ich dir versichern, Marja: ich kann meiner Frau keinen Vorwurf machen, habe ihr nie einen Vorwurf gemacht und werde niemals in die Lage kommen, es zu tun; auch mir selbst habe ich mit Bezug auf sie nichts vorzuwerfen; und das wird stets so bleiben, in welcher Lage auch immer ich mich befinden mag. Aber wenn du die Wahrheit wissen willst ... wenn du wissen willst, ob ich glücklich bin: nein! Ob sie glücklich ist: nein! Und woher das kommt: ich weiß es nicht ...«
Nach diesen Worten stand er auf, trat zu seiner Schwester, beugte sich nieder und küßte sie auf die Stirn. Aus seinen schönen Augen leuchteten Verstand und Herzensgüte in ungewöhnlichem Glanz; aber er blickte nicht die Schwester an, sondern über ihren Kopf hinweg in das Dunkel der offenstehenden Tür.
»Wir wollen zu ihr gehen; ich muß Abschied nehmen. Oder geh du allein und wecke sie; ich komme sofort nach ... Peter!« rief er dem Kammerdiener zu, »komm her und nimm die Sachen. Dies hier kommt unter den Sitz, und dies auf die rechte Seite.«
Prinzessin Marja stand auf und ging nach der Tür hin; aber sie blieb noch einmal stehen.
»Andrei, wenn du gläubig wärest, dann hättest du dich im Gebet an Gott gewendet, daß Er dir die Liebe verleihen möge, die du in deinem Herzen nicht empfindest, und dein Gebet wäre erhört worden.«
»Ja, das mag sein!« erwiderte Fürst Andrei. »Geh, Marja, ich komme auch gleich.«
Auf dem Weg nach dem Zimmer seiner Schwester, in der Galerie, die die beiden Teile des Hauses miteinander verband, stieß Fürst Andrei auf die freundlich lächelnde Mademoiselle Bourienne, die ihm schon zum drittenmal an diesem Tag mit ihrem schwärmerischen, kindlich-naiven Lächeln in einsamen Gängen begegnete.
»Ah, ich glaubte, Sie wären in Ihrem Zimmer«, rief sie, wobei sie ohne erkennbaren Grund errötete und die Augen niederschlug.
Fürst Andrei warf ihr einen strengen Blick zu und machte ein zorniges Gesicht. Er sagte kein Wort zu ihr, sondern blickte, ohne ihr in die Augen zu sehen, nur nach ihrer Stirn und ihrem Haar mit einem so verächtlichen Ausdruck, daß die Französin errötete und sich schweigend entfernte. Als er zu dem Zimmer seiner Schwester kam, war die Fürstin schon aufgewacht, und er vernahm durch die offenstehende Tür ihr vergnügtes, mit großer Geschwindigkeit plauderndes Stimmchen. Sie redete und redete, als ob sie nach langer Enthaltung die verlorene Zeit wieder einbringen wolle.
»Nein, stelle dir das nur einmal vor: die alte Gräfin Subowa mit falschen Locken und den Mund voll falscher Zähne, als ob sie sich ihren Jahren zum Trotz jung machen wollte. Hahaha, liebste Marja!«
Genau dieselbe Äußerung über die Gräfin Subowa und dasselbe Lachen hatte Fürst Andrei schon fünfmal in Gegenwart anderer von seiner Frau zu hören bekommen. Er trat leise in das Zimmer. Die Fürstin, mit ihrer vollen Gestalt und den roten Wangen, eine Handarbeit in den Händen, saß in einem Lehnstuhl und redete ohne Unterbrechung, indem sie Petersburger Erinnerungen und sogar Petersburger Phrasen auskramte. Fürst Andrei trat zu ihr, strich ihr mit der Hand über den Kopf und fragte sie, ob sie sich nun von der Reise erholt habe. Sie antwortete ihm und fuhr dann in demselben Gespräch fort.
Die mit sechs Pferden bespannte Kalesche stand vor dem Portal. Es war eine dunkle Herbstnacht; der Kutscher konnte nicht einmal die Deichsel des Wagens sehen. Beim Portal waren Leute mit Laternen in eifriger Tätigkeit. Die großen Fenster des kolossalen Gebäudes waren hell erleuchtet. Im Vorzimmer drängte sich die Dienerschaft, die dem jungen Fürsten Lebewohl sagen wollte; im Saal standen alle Hausgenossen: Michail Iwanowitsch, Mademoiselle Bourienne, Prinzessin Marja und die Fürstin. Fürst Andrei war zu seinem Vater in dessen Arbeitszimmer gerufen worden; denn dieser wollte allein von ihm Abschied nehmen. Alle warteten darauf, daß die beiden in den Saal kommen würden.
Als Fürst Andrei in das Arbeitszimmer kam, saß der alte Fürst am Tisch und schrieb; er hatte seine altväterische Brille aufgesetzt und war in seinem weißen Schlafrock, in dem er niemand empfing als seinen Sohn. Als er ihn eintreten hörte, drehte er sich zu ihm um.
»Fährst du jetzt?« fragte er und schrieb dann wieder weiter.
»Ich bin gekommen, um von Ihnen Abschied zu nehmen.«
»Küsse mich dahin«, er zeigte auf seine Backe. »Ich danke dir, ich danke dir!«
»Wofür danken Sie mir?«
»Dafür, daß du nicht zögerst, in den Krieg zu gehen, dich nicht an einen Weiberrock hängst. Der Dienst muß allem vorgehen. Ich danke dir, ich danke dir!« Er schrieb wieder weiter, und mit solchem Eifer, daß Tintenspritzer von der kreischenden Feder flogen. »Wenn du etwas zu sagen hast, so sprich nur. Ich kann diese beiden Sachen zugleich erledigen«, fügte er hinzu.
»Über meine Frau möchte ich ein Wort sagen ... Es ist mir peinlich, daß ich sie Ihnen zur Last fallen lasse ...«
»Unsinn! Sage einfach, was du wünschst.«
»Wenn die Entbindung meiner Frau herankommt, dann lassen Sie, bitte, einen Arzt aus Moskau kommen ... Ich möchte, daß ein Arzt dabei ist.«
Der alte Fürst hielt mit dem Schreiben inne und heftete, als ob er nicht verstanden hätte, seine strengblickenden Augen auf den Sohn.
»Ich weiß, daß niemand helfen kann, wenn die Natur sich nicht selbst hilft«, fuhr Fürst Andrei, sichtlich verlegen, fort. »Ich gebe zu, daß unter einer Million von Fällen nur einer unglücklich abläuft; aber das ist nun einmal so eine fixe Idee bei ihr und bei mir. Man hat ihr etwas eingeredet, und sie hat etwas geträumt; nun fürchtet sie sich.«
»Hm ... hm«, murmelte der alte Fürst weiterschreibend vor sich hin. »Ich werde es tun.«
Er setzte mit raschem Zug seinen Namen unter das Geschriebene, wendete sich schnell zu dem Sohn um und lachte auf.
»Ein schlimm Ding, he?«
»Was ist schlimm, lieber Vater?«
»Die Frau!« erwiderte der alte Fürst kurz und nachdrücklich.
»Ich verstehe Sie nicht«, antwortete Fürst Andrei.
»Ja, da ist weiter nichts zu machen, lieber Freund«, sagte der Alte. »Sie sind alle von derselben Sorte; sich scheiden lassen kann man nicht. Sei unbesorgt, ich sage es niemandem; und du selbst weißt ja, wie es steht.«
Er ergriff mit seiner knochigen, kleinen Hand die des Sohnes, schüttelte sie, blickte ihm mit seinen lebhaften Augen, die einen Menschen durch und durch zu sehen schienen, gerade ins Gesicht und lachte wieder in seiner kalten Manier.
Der Sohn seufzte und gestand mit diesem Seufzer, daß der Vater seine Lage richtig beurteilt hatte. Der Alte war jetzt damit beschäftigt, seinen Brief zu falten und zu siegeln: mit seiner gewöhnlichen Raschheit ergriff er nach Erfordernis das eine oder andere Stück, Papier, Siegellack, Petschaft, und warf es wieder hin.
»Was ist zu machen? Schön ist sie ja! Ich werde alles ausführen. Du kannst beruhigt sein«, sagte er in abgerissenen Sätzen während des Siegelns.
Andrei