Der kleine Löwe schaute ihm so lange nach, bis er ihn schließlich aus den Augen verlor. Als Leo dann den Kopf wieder senkte und um sich blickte, erkannte er, dass er sich in einer Gegend befand, wo er noch nie gewesen war. Rechts vor ihm lag eine Viehfarm, und links davon dehnte sich das Weideland aus, auf dem Kühe grasten.
Büffel und Gnus hatte das Löwenkind in der Wildnis zwar schon gesehen, aber noch nie solche schwarzweiß gescheckten Tiere wie jene da vor ihm. Neben einigen Kühen hockten schwarze Männer auf einem Schemel, hielten einen Eimer zwischen den Beinen geklemmt und melkten. Auch das hatte Leo noch nie gesehen. Deshalb wollte er gern wissen, was dort vor sich ging.
Als jedoch die Schwarzen den Löwen erblickten, ließen sie erschrocken ihre Melkeimer fallen, sprangen auf und schrien wild durcheinander:
„Ein Löwe!“
„Rettet euch, ein Löwe!“
„Ein Löwe will uns fressen!“
„Hilfe! Hilfe!“
„Nichts wie weg von hier!“
„Ein Löwe!“
„Ein wilder Löwe!“
Unter solchen Schreckensrufen flohen die schwarzen Melker auf die Farmgebäude zu, während die frisch gemolkene Milch über die Weide floss. Auch die Kühne rannten davon - bis auf eine Kuh, die sich das linke Hinterbein verstaucht hatte und deshalb nicht gut laufen konnte.
„Halt, halt, ihr alle!“, rief Leo hinter ihnen her. „Bleibt doch stehen, ich tue euch ja nichts.“
Einen Augenblick lang blieben die Kühe auch tatsächlich stehen und glotzten ihn misstrauisch an. Doch als sich der kleine Löwe ihnen weiter näherte, flüchteten sie erneut.
Die Kuh mit dem Hinkebein, die nicht gut laufen konnte, drückte ihre Klauen fest in den Boden und senkte den Schädel mit den Hörnern, um sich bei einem Angriff wehren zu können.
„Bleibt doch endlich stehen!“, bat der kleine Löwe die Kühe von neuem. „Ich möchte euch nur guten Tag sagen. Vor mir braucht kein Tier Angst zu haben. Ich bin doch Leo.“
Als die Kühe den Namen hörten, machten sie plötzlich Halt und drehten sich um. Die Kuh mit dem Hinkebein hob den Kopf wieder und blickte das Löwenkind freundlich an. Neugierig trottete der kleine Löwe auf sie zu.
Kann man auch einen Löwen melken?
Dicht vor der Kuh mit dem Hinkebein blieb der kleine Löwe stehen und wedelte mit dem Schweif.
„Muh-muh, Leo heißt du?“, fragte sie ihn.
„Ja, kennst du mich vielleicht?“
„Gesehen habe ich dich zwar noch nicht, aber ich habe schon viel von dir gehört, muh-muh.“
„Von wem denn?“
„Oh, von vielen Tieren, zum Beispiel auch von Koko, dem Äffchen.“
„Koko pflückt mir immer die Bananen und schüttelt mir die Kokosnüsse herunter“, fiel Leo lebhaft ein.
„Auch der Marabu hat mir von dir erzählt.“
„Von ihm weiß ich die Namen aller Blumen.“
„Muh-muh, alle Tiere hier in der Gegend kennen dich, und alle sprechen nur gut über dich.“
„Warum sind denn vorhin alle Büffel vor mir weggelaufen?“
Die Kuh mit dem Hinkebein lächelte. „Erstens sind wir keine Büffel, sondern Kühe -“
„Da hab ich mal wieder was Neues dazugelernt“, warf Leo begeistert ein.
„Und zweitens“, fuhr die Kuh fort, „haben wir ja nicht ahnen können, dass du Leo bist.“
„Aber jetzt, wo du es weißt, hast du keine Angst mehr vor mir?“
„Nein, Leo, und die anderen Kühe auch nicht.“
Tatsächlich kehrte die Herde zufrieden brummend zurück. Alle begrüßten das Löwenkind und freuten sich, seine Bekanntschaft zu machen. Auch Leo strahlte übers ganze Gesicht.
„Was haben vorhin die schwarzen Männer eigentlich mit euch gemacht?“, fragte er.
„Sie haben uns gemolken“, erwiderte die Kuh mit dem Hinkebein.
Der kleine Löwe stutzte. „Wie soll ich das verstehen, liebe Kuh?“
„Muh-muh, wie soll ich dir das erklären, kleiner Löwe?“
„Kann man auch einen Löwen melken?“
„Das glaube ich kaum“, erklärte die Kuh mit dem Hinkebein lachend, und die ganze Herde stimmte fröhlich mit ein. „Nur Kühe werden gemolken - und manchmal auch Ziegen und Schafe. Wir fressen fettes Gras und machen Milch daraus. Und dann kommen die Menschen und melken uns, weil sie gern unsere Milch trinken oder Butter, Sahne und Käse daraus herstellen.“
„Milch hab ich auch schon getrunken bei meiner Mama, als ich noch ganz klein war.“
„Und jetzt bekommst du keine mehr?“
Leo schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben doch keine Kuh zu Hause.“
„Das kann ich gut verstehen. Bei wilden Löwen würde eine Kuh auch nicht alt, muh-muh.“
Die Kuh mit dem Hinkebein lachte erneut los, und all die anderen Kühe, die Leo umringten und anglotzten, fielen in das Gelächter ein.
„Schade!“, seufzte der kleine Löwe nach einer Weile.
„Was, Leo?“
„Dass ich jetzt keine Milch mehr von meiner Mama bekomme.“
„Muh-muh, hast du denn früher immer gern Milch getrunken?“, erkundigte sich die Kuh mit dem Hinkebein.
„Schrecklich gern!“
„Dann versuch doch mal, ob dir auch unsere Milch schmeckt. Dort im Eimer ist noch ein Rest übriggeblieben.“
„Das will ich gern tun.“
Als die Melker vorhin vor Schrecken ihre Eimer umgestoßen hatten, war einer so gegen einen Schemel gefallen, dass er nur halb ausgelaufen war. Das Löwenkind hockte sich auf die Hinterbeine, nahm den Eimer zwischen die Pfoten und hob ihn hoch. Den Rand setzte es an die Lippen und ließ die Milch genießerisch ins Maul rinnen. Da Leo dabei zu hastig vorging, tropfte ihm ein Teil der Milch links und rechts die Schnurrhaare hinunter und weiter über Hals und Bauch.
Das sah so täppisch aus, dass sich die dicken Kühe vor Lachen schüttelten.
Leo lernt melken
„Genug Milch geschleckt, kleiner Löwe?“, fragte die Kuh mit dem Hinkebein schmunzelnd, als Leo endlich den leeren Eimer wieder hinstellte.
Verschmitzt wischte sich der Löwe mit der Pfote übers Maul und grunzte: „Jetzt hab ich erst richtig Appetit bekommen.“
„Muh-muh, zu dumm, dass die Melker vorhin auf der Flucht alle Eimer umgekippt haben. Wenn du allerdings wüsstest, wie man melkt, dann könntest du dir selbst einen Eimer mit Milch füllen.“
„Versuchen kann ich’s ja mal, liebe dicke Kuh.“
„Muh-muh, dann hock dich auf einen Schemel und klemme den Eimer zwischen die Hinterbeine. Mit den Vorderpfoten melkst du mich dann: links - rechts, links - rechts, links - rechts...“
Obwohl Leo noch nie gemolken hatte, klappte es auf Anhieb, denn die Kuh mit dem Hinkebein gab sich alle Mühe,