Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: A. A. Kilgon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783742761583
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plötzlich hatte sie keinen Appetit mehr.

      An diesem Abend ging sie früh zu Bett, konnte jedoch lange keinen Schlaf finden. Die Gedanken an den nächsten Tag belasteten sie. Es würde vermutlich der Tag der Wahrheit werden. Ihr Termin zum MRT stand fest. Sie hatte ihn bestimmt nur deshalb so schnell bekommen, weil Dr. Umlauf vermutlich einen schlimmen Verdacht hatte. Zumindest lag das nahe. Der Arzt hatte sich auf dem Überweisungsschein in handschriftlichen Hieroglyphen wohl auch dazu ausgelassen. Leider war seine Schrift für Tilda unlesbar und sie scheute sich davor, Ludwig zu fragen, ob er die undeutlich hin gekritzelten Worte entziffern konnte. Es würde sich schon zeigen, was mit ihrer Gesundheit nicht stimmte. Tilda fühlte, wie sich alles in ihr zusammenzog und erneut diese merkwürdige Kälte durch sie hindurchströmte. Sie drehte sich zur Seite und schloss fest die Augen. Sie wünschte sich nichts mehr, als sofort fest einzuschlafen und einfach am nächsten Morgen zu erwachen und zu erkennen, dass alles nur einen bösen Traum gewesen war.

      Irgendwann hörte sie im Halbschlaf, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und Ludwig nach Hause kam. Dann schlief sie wieder fest ein. Im Laufe der Nacht erwachte sie mehrmals durch eine schreckliche innere Unruhe. Es war bereits nach Mitternacht, als wie wieder einmal auf das Zifferblatt ihres Weckers schaute. Der Tag der Untersuchung war also schon angebrochen. Tilda lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit des Zimmers. Sie hatte keine Chance, auch nur für einen Moment wieder einzuschlafen. Die Angst hockte auf ihrer Decke. Ihr blondes Haar klebte ihr schweißnass am Kopf. Sie war durchgeschwitzt, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Sie hoffte, dass das nur Symptome ihrer Angst waren und keine Zeichen ihrer Krankheit. Sie war in jedem Falle tief beunruhigt. Stumm fragte sie sich, wo eigentlich ihr Leben geblieben war. Ihr schönes, friedliches, entspanntes Leben, das sie bisher immer so selbstverständlich hingenommen hatte. Ihre Augen brannten im Dunkeln. Ihre Lippen und ihr Hals waren trocken. Das Schlucken fiel ihr schwer. Es war, als wenn ein Stöpsel in ihrer Kehle steckte. Auf ihrer Zunge lag ein bitterer Geschmack. Sie fühlte etwas Schreckliches auf sich zukommen, ohne beschreiben zu können, was es war. Ihre Hände lagen zu beiden Seiten ihres Körpers und hielten krampfhaft das Laken fest. Tilda hätte schreien können vor Angst. Sie versuchte, kontrolliert zu atmen, um die Panik zu überwinden, die sich an sie geheftet hatte wie ein schwerer Stein an einen Ertrinkenden. Am Schlimmsten war die Angst vor der Ungewissheit, die sie Stunde für Stunde aus riesigen schwarzen Augen anstarrte und sie nicht wieder einschlafen ließ. Diese Ungewissheit war schlimmer, als alles, was sie bisher kannte. Sie war absolut unerträglich. Möglicherweise war das ihr Instinkt, der eine schlimme Krankheit anzeigte. Oder hatte sie sich da bloß in etwas hineingesteigert?

      Eine endlos lang erscheinende Zeit rang Tilda so um ihre Fassung. Irgendwann stand sie auf und ging ins Wohnzimmer, ins Bad, ins Wohnzimmer zurück und wieder ins Bad. Sie wusch sich ihr Gesicht und die Unterarme mit kaltem Wasser. Das half ihr ein wenig, sich abzulenken und für kurze Zeit an etwas anderes zu denken. Nach einer knappen Stunde fühlte sie sich ein wenig ruhiger. Sie schlich ins Schlafzimmer zurück und legte sich leise wieder neben Ludwig. Sie wollte ihn nicht stören. Was hätte er auch für sie tun können? Sie hätte ihm ihre Angst nicht erklären können. Es gab bisher auch gar keinen vernünftigen Grund dafür. Ludwig hätte das nicht verstanden. Sie kannte ihn lange genug, um das zu wissen. „Wegen ungelegter Eier braucht man sich nicht fertig zu machen.“, pflegte er bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen. Tilda kannte seine Sprüche. Sie wollte sie nicht hören.

      Nach wie vor waberte in ihrem Kopf ein Gedankenknäuel umher, von dem sie sich bis zum Morgengrauen nicht frei machen konnte. Alle Menschen um sie herum schienen zu atmen und zu leben, gingen zur Arbeit und wieder nach Hause. Sie hatten ihre Familien, ihre Sorgen und Nöte und natürlich auch ihre Freuden. Alle um sie herum schienen gesund zu sein. Die ganze Welt schien voller gesunder Menschen zu sein. Nur bei ihr stimmte etwas nicht. Während Hamburg pulsierte und voller Leben war, lag sie von Panik gequält in der Dunkelheit. Sie wollte doch eigentlich überhaupt nichts mit dem Krankenhaus zu tun haben! Sie wollte noch nie etwas mit Krankenhäusern zu tun haben! Sie wollte die Menschen dort nicht treffen. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. In diesem Moment wünschte sie sich weit weg in ein anderes Leben. Doch all das brachte sie nicht weiter. Sie würde in ein paar Stunden genau dort hingehen müssen, wo sie nicht hin wollte: ins Krankenhaus. Tilda erschien das wie der Weg zum Schafott.

      Immer noch lag sie mit weit geöffneten Augen in der Dunkelheit und starrte vor sich hin, ohne etwas Genaues dabei sehen zu können. Nur der mitleidlose Wecker neben ihr tickte leise. Tilda sah erneut auf sein Zifferblatt. Es war erst 4.00 Uhr morgens. Viel zu früh, um aufzustehen. Die Zeit tropfte so langsam wie zäher Honig von einem Löffel herab. Erst in zwei Stunden wollte sie aufstehen. Tilda presste die Lider zusammen. Sie nahm sich ganz fest vor, bis dahin über nichts Schreckliches mehr nachzudenken. Ganz still lag sie so und fühlte sich wie erstarrt. Es war ein Gefühl, für das es keine Worte gab.

      Unten auf der Straße fuhren zwei Autos vorbei. Autotüren wurden zugeschlagen. Für manche Anwohner der Straße begann offenbar schon der Tag. Tilda drehte sich um. An Schlaf war an diesem frühen Morgen nicht mehr zu denken.

      KAPITEL 2

      Der Morgen kam unweigerlich und hüllte die Stadt in ein fahles Licht. Tilda hatte den Wecker ausgeschaltet, als sie weit vor der Zeit aufgestanden war. Sie konnte nicht länger im Bett bleiben. Ihr Körper schmerzte. Beim Frühstück mit Ludwig blieb sie einsilbig. Er bemerkte es entweder nicht oder er ignorierte es. Er verhielt sich an diesem Morgen genau wie immer. Tilda war sich nicht sicher, ob er sich wirklich keine Sorgen machte oder ob er nur so tat, als ob er sich keine machen würde. Vielleicht hatte er auch einfach nicht mehr daran gedacht, dass sie ihren Termin beim MRT hatte. Möglich war das auch. Ludwig war zwar sehr sensibel, allerdings gewöhnlich nur dann, wenn es um ihn selbst ging. Im täglichen Miteinander hatte Tilda sich im Laufe der Zeit schon fast daran gewöhnt. Es war ihr anfangs nicht leicht gefallen, aber nach den Jahren war sie bis zu diesem Zeitpunkt recht sicher gewesen, dass es ihr inzwischen nichts mehr ausmachte. Doch an Tagen wie diesem verletzte es sie viel mehr, als sie erwartet hatte. Sie fühlte sich hilflos und verlassen und ohne jeden Beistand. Mehrmals waren ihr an diesem Morgen schon die Tränen in die Augen geschossen, als sie sich dessen bewusst geworden war. Dann war sie schnell aus dem Zimmer gegangen. Sie hatte sich allein und ausgeliefert gefühlt. Aber sie wollte Ludwig keine Erklärungen geben müssen. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Was hätte sie ihm vorwerfen können? Hätte sie ihm sagen sollen, dass sie der Ansicht war, er wäre emotional unterbelichtet und würde keinen Anteil an ihren Ängsten nehmen? Er hätte sie ganz sicher nicht verstanden. Für ihn war seine Gefühlswelt vollkommen in Ordnung. Er kannte schließlich keine andere. Wenn er bestimmte Gefühle nicht hatte, dann war das eine Tatsache, an der nicht zu rütteln war. Wenn sich Tilda bei ihm darüber beschweren würde, dann würde er sich sicher so fühlen, als würde sie von ihm verlangen, chinesisch mit ihr zu sprechen. Ludwig sprach aber kein chinesisch.

      Ziemlich wahrscheinlich war, dass er nicht an ihren Termin gedacht hatte. Tilda fühlte sich elend und kämpfte immer noch still mit den Tränen. Sie ging hinaus ins Badezimmer und wusch sich ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Sie wollte nicht verheult aussehen. Das brachte ihr ein wenig Erleichterung, die aber leider nicht lange anhielt.

      Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass Ludwig ihren Termin keineswegs vergessen hatte. Er brachte sie sogar mit dem Auto hin. Auf dem Weg ins Stadtbauamt setzte er Tilda vor der Klinik ab. Inzwischen hatte es zu nieseln begonnen. Der Himmel war eingetrübt. Trotzdem roch es überall nach frischer Erde und nach Frühling. Unter anderen Umständen hätte Tilda diesen Geruch sicher großartig gefunden. Jetzt empfand sie ihn nur noch als unangenehm. Er wirkte auf sie schwer und bedrohlich wie den Geruch der Pflanzen und der Erde auf einem Friedhof. Tildas Stimmung war auf dem Tiefpunkt angekommen, als sie vor der Klinik aus dem Auto stieg. Sie hatte Angst.

      Ludwig war hinter dem Steuer sitzengeblieben. Er hatte es eilig, wollte weiter zur Arbeit. Er gab ihr den vertrauten Kuss auf die linke Wange und sagte mit flachem Optimismus: „Viel Glück, Schatz! Wird schon nicht so schlimm sein!“ Tilda sah ihn an, ohne ein Wort hervor zu bringen. Sie hob nur hilflos ihre Schultern, bevor sie schließlich sagte: „Naja, Luddi, irgendwas wird schon sein. Sonst hätte ich nicht so schnell den Termin bekommen…. Befürchte ich zumindest…..“ Tildas Stimme klang unschlüssig und merkwürdig brüchig.