am 1. Juni. Lassen Sie uns das Blatt zweiteilen: links die Daten und Stichworte zu den Fakten und rechts die Detailinformationen.”
„Also fangen wir an”, erwiderte Mertens und zog einen langen Strich vertikal durch die Mitte des Blattes.
Hinter Mord No. 1 auf der Liste erschienen die Detailinformationen:
Fünfundzwanzigjähriger, amerikanischer Staatsbürger, erwürgt mit Drahtschlinge, keinerlei Spuren am Körper sonst, außer: es stand unzweifelhaft fest, dass der Ermordete kurz vor seinem gewaltsamen Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte, darauf deuten einige sichere Hinweise, zumindest gab es eine Ejakulation.
Der Mann war kerngesund, ein athletischer Typ, beste Verdauung, keinerlei Unregelmäßigkeiten an den untersuchten ‘Innereien’, ein kräftiges Herz, jedenfalls so lange, bis es mangels ausreichender Zufuhr an sauerstoff-führenden roten Blutkörperchen und mangels entsprechender vasomotorischer Antriebsbefehle seine Tätigkeit einstellte. Der Mann hätte unter normalen Umständen steinalt werden können.
An seinen Fußsohlen waren Partikel einer bestimmten Diatomee entdeckt worden, einer Kieselalge, die als Süßwassersediment in ehemaligen Seenbecken vorkommt, allerdings nicht hier in der Nähe; nächste Vorkommen waren Lüneburger Heide oder Vogelsberg. Man hatte herausgefunden, dass dieser ‘Kieselgur’ eingedeutscht, der aus den Panzern dieser Algen besteht, unter anderem zur Wärme-, Kälte- und Schall-Isolierung verwendet wird. Eigenartig, dass sich Spuren dieser Alge an den Fußsohlen des Toten befanden, was darauf hindeuten konnte, dass er als häufiger Barfußläufer, das wiesen die Schwielen und der kräftige Hornhautschutz an den Fußsohlen aus, bei Isolierarbeiten damit in Berührung kam oder irgendwie sonst. Merkwürdig und bei weitem nicht zufriedenstellend geklärt.
Der Mann hatte sich, das konnte über die amerikanische Botschaft und über die Eltern des Toten recherchiert werden, der A-Sekte angeschlossen und hatte während einer Europareise einen lange geplanten Abstecher zu deren Domizil hier in der Nähe gemacht.
Allerdings kam er nachweislich bereits in den ersten Januartagen hier an, dann am 3. Februar wurde er ermordet aufgefunden. Von den Sektenmitgliedern, die man vernommen hatte, alle harmlos scheinend und in ganz anderen Sphären schwebend, die selbst im kalten Februar barfuss herumliefen in weiten wallenden Gewändern, die kein Fleisch aßen und viel meditierten ... war keine brauchbare Auskunft zu erhalten. Durch den überall anwesenden Räucherstäbchen-Qualm war lediglich zu erfahren, dass sich der junge Mann entschlossen hatte, noch ein paar Monate länger zu bleiben und dass er zu dem Opfer No. Zwei eine intime Beziehung aufgebaut zu haben schien.
Opfer No. Zwei, eine Zweiundzwanzigjährige aus Sri Lanka, eine ausgesprochene Schönheit, wie der vernehmende Beamte in sein damaliges Protokoll vermerkt hatte, eine Frau, die allerdings nur gebrochen Deutsch sprach, aber ein gutes Englisch, hatte den Amerikaner hier (dort in Sommertal) bei einem gemeinsamen Abendessen im Hause der A-Sekte erst kennengelernt. Die beiden waren sich schnell nähergekommen und hatten beschlossen, nach ihrem verlängerten gemeinsamen Aufenthalt dort, die Weiterreise gemeinsam fortzusetzen.
Die Frau war seit dem dritten Februar um Jahre gealtert und gebrochen.
Der Tod ihres Geliebten hatte sie völlig aus der Bahn geworfen
und sie begann offensichtlich unter Drogen oder unter Alkoholeinfluss eigenartige Geschichten zu erzählen, die keiner so richtig ernst nahm (im Protokoll von damals der Vermerk zu einer Anlage: gesammelte Informationen über diese obskuren Geschichten, nur der Form halber protokolliert; siehe Anlage 7B im Archiv zu Leitnummer K37-III/7B).
Als die Frau dann am 13. März nicht zum Abendessen erschien und man sie weder in ihrem Zimmer, noch in anderen Räumen des Komplexes hatte finden können, war noch in der Nacht eine Großzahl Sektenmitglieder mit Taschenlampen losgezogen und hatten das umliegende Gelände, insbesondere das Waldgebiet abgesucht.
Man hatte sie erhängt an einer Eiche gefunden. Selbstmord, war der erste Befund, der sich auch hartnäckig lange in den Akten hielt.
Bis eine Kleinigkeit auffiel, die übersehen worden war, als man die Tote vorschnell abschnitt. Eine Kommissarassistentin hatte bei routinemäßigem Durchblättern der Unterlagen eigentlich mehr auf Anraten ihrer Vorgesetzten, sich mal alle Fälle der letzten drei Monate vorzunehmen, - “Anschauungsmaterial” hatte man das genannt, zum Einarbeiten, sie nannte das “Beschäftigungstherapie” -,
und bei Besichtigung des Ortes des Geschehens etwa sechs Wochen nach dem vermeintlichen Selbstmord festgestellt:
ohne Hilfsmittel hätte die lebende Frau bei einer Körpergröße von einhundertundsiebzig Zentimetern, selbst auf Zehenspitzen und mit Hüpfen diesen Ast, an dem Sie gehangen hatte, in zweihundertundneunzig Zentimetern Höhe garnicht erreichen können!
Vielleicht durch Klettern, indem Sie am ansonsten auch zum Todeszeitpunkt astlosen Stamm des Baumes hochgeklettert war, die Schlinge um den Ast und um ihren Hals band und dann hinunter sprang. Auch nur Theorie, denn weder an Händen, noch an den nackten Füßen waren irgendwelche Spuren von Baumrinde, von den Flechten, die am Baum wucherten, von den Moosen, die dort schon seit mindestens dem letzten Herbst in den Borkenfurchen vergraben lebten, von der Schicht Mikroalgen, die über den gesamten Stamm verteilt lebten, noch irgendwelche Kratzer zu finden gewesen, im Gegenteil stand im Bericht der
Pathologie: die Handinnenflächen waren beinahe bakteriologisch gereinigt sauber und zeigten nicht einmal Spuren des Seiles, das zum Erhängen benutzt worden war.
Und ‘Hilfsmittel’, war aus dem flüchtigen Protokoll der Spurensicherstellung zu entnehmen, die sie hätte benutzen können, um das Seil über den Ast zu werfen und sich zu erhängen, waren nicht gefunden worden und gab es auch keinerlei Anhaltspunkte dafür.
„Verdammte Schlamperei”, mokierte sich Wendehals spontan, als Mertens diese letzten Erkenntnisse vorgelesen hatte, „wieviel kostbare Zeit war verstrichen, die hätte genutzt werden müssen, um frische Spuren zu analysieren? Stattdessen haben sie sich wie kleine Kinder benommen, haben die skurrilen Geschichten um die Tote als Indiz dafür genommen, dass die seit dem Tod ihres Geliebten nicht mehr ganz richtig war im Oberstübchen und haben das kleine Einmaleins der Spuren- und Erkennungssicherung völlig vergessen.”
„Wie hier steht, wurden die Ermittlungen dann trotzdem bald eingestellt, da man überhaupt keine (keine mehr!) Hinweise auf den oder die Täter finden konnte! Wirft sich die Frage auf, wer hatte ein Interesse daran, erstens die Frau zu beseitigen und zweitens das Ganze so aussehen zu lassen, als sei es Selbstmord gewesen?”
„Wenn wir das wüssten, wären wir unserem Ziel ein erhebliches Stück weiter, das fühle ich und Mord No. Drei gibt leider auch nicht viel mehr her, außer, dass man gleich Fremdeinwirkung erkannt hat, kein Wunder, bei dem Drumm von Loch im Schädel!” meinte Wendehals ironisch.
„Dabei ist noch nicht einmal unumstritten sicher, dass es Mord war, weil es sich um eine Kugel aus einem Jagdgewehr gehandelt haben muss, wie die Ballistiker festgestellt haben. Am Mordtag oder sagen wir vorsichtiger ‘am Todestag’ fand nämlich die Eröffnung der Jagdsaison auf Rotwild statt, von denen es hier noch ein paar Stücke zu geben scheint.
Bei dem entsprechenden Treiben und aus den, den Jägern zugewiesenen Ständen heraus sind mindestens dreißig Schuss
des gleichen Kalibers abgegeben worden, wieder .30-06, von denen in den zur Strecke gebrachten Wildkörpern lediglich fünf Stück nachgewiesen werden konnten, zwei Geschosse konnte man aus Baumrinde sicherstellen, die restlichen dreiundzwanzig suchte man vergebens.
Auch bei der Bestimmung der Waffe ist man nicht so recht weitergekommen; jedenfalls aus den vier Büchsen mit dem passenden Kaliber, die später zur ballistischen Prüfung abgegeben worden waren, war der tödliche Schuss auf das Opfer, einen vierundzwanzigjährigen Deutschen, abgebrochener Chemiestudent im vierten Semester, stammte aus Würzburg, nicht abgegeben worden. Allerdings scheint auch sicher, dass eine ganze Reihe von Schützen nicht die richtige Waffe angegeben haben, mit der sie bei der Jagd geschossen haben wollen. Vielleicht aus Angst davor, es könnte sich herausstellen, dass einer dieser vielen Fehlschüsse doch ein Treffer gewesen war!”
„Konnte