„Claudia! Himmeldonnerwetter, sind deine Ohren verstopft? Ich schreie mich hier heiser, und du sitzt seelenruhig hier draußen und träumst!“
Als die Ehefrau diese heftigen Worte vernahm, fuhr sie erschrocken herum und war zunächst sprachlos. Sie hatte in über zwanzig wechselvollen Ehejahren ihren Horst oft genug in mehr oder weniger enthülltem Zustande gesehen und es sich längst abgewöhnt, an dem verwirrenden Bilde Anstoß zu nehmen.
Dass er jedoch in der halben Aufmachung eines Schlossgeistes auf der offenen Veranda erschien und durch laute Stimme die Leute in den Nachbargärten aufmerksam machte, verschlug ihr den Atem. Entsetzt starrte sie in sein zorngerötetes Gesicht.
„Du irrst, Horst“, sagte sie dabei abweisend. „Ich träumte nicht, sondern las die Zeitung. Im Übrigen vergisst du, dass hier die Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen ist.“
Buschinski stand wie eine Bildsäule. Er war nahe daran, zu explodieren. Doch die Mahnung vor den Augen der Nachbarn kühlte ihn merklich ab. Er trat in die Tür zurück und zwang sich mit Gewalt zur Beherrschung.
„Bitte, Claudia!“, fleht er dann ziemlich sanft. „Hilf mir doch! Am Oberhemd sind sämtliche Knöpfe abgerissen. Ich habe doch nicht mehr viel Zeit!“
Da erhob sich die Ehefrau lässig, ging ihm voran nach oben, kramte aus dem Wäscheschrank ein anderes Oberhemd und machte sich wortlos daran, ihn anzuziehen, als hätte sie ein kleines Kind vor sich.
Horst ließ es sich gern gefallen. Ja, unter Claudias geschickten Händen glätteten sich auch die Wogen seines Gemüts. Er wurde zahm wie ein Lamm, trocknete sich gehorsam die Schweißperlen vom Kopf und gluckste vor Behagen, als die geduldige Eheliebste ihm zum Schluss auch noch die Krawatte um den Eckenkragen band.
„So, nun aber fix in die Hose!“, rief Claudia dann, indem sie von dem fülligen Ehemann zurücktrat und ihm die gestreifte Anzughose in die Hände drückte. „Wenn du erlaubst, decke ich inzwischen den Abendbrottisch.“
„Abendbrot? Ach Gott, das hätte ich bald vergessen!“, rief Buschinski. „Aber bitte, Claudia, für mich nur eine einzige Wurstschnitte! Mehr kann ich bei dieser Hitze wirklich nicht essen.“
Wenn die Hitze doch nur recht lange anhielt, damit ihm eine gehörige Menge Bauchfett wegschmelzen möchte, dachte die Ehefrau in einer burschikosen Regung. Wie vieles, behielt sie indes auch dies für sich, nickte verständnisvoll und entschwand.
Als Buschinski wieder allein war, sank er auf einen Stuhl nieder und begann, sich die Hose über die krummen Beine zu würgen. Das war, da ihm der Birnenbauch bei keiner Verrichtung so im Wege saß wie bei dieser, eine schwierige und höchst anstrengende Sache.
Aber unter vielen Ächzen schaffte er es, und als er wieder aufgestanden war und die Hosenträger angelegt hatte, richtete sich auch sein Selbstbewusstsein zu alter Höhe auf.
Dann stellte er sich noch einmal von dem riesigen Spiegel in Positur, tat, als stünde er bereits auf dem Rednerpodium des Stadtparlaments, und rief mit beschwörend erhobenen Händen:
„Wohlan denn, Herr des Himmels, nun segne meinen Kampf für die Ehre und das Andenken Hans Carossas, meines unsterblichen Ahnen mütterlicherseits! Ich bin bereit ...!“
2
Nein, ganz war Horst Buschinski noch nicht bereit.
Er aß unten im Speisezimmer erst noch seine Wurstschnitte und genehmigte sich anschließend noch zwei Obstler. Trotz der Schwüle des Sommerabends, die nach Gewitterluft roch, hielt er die innere Erwärmung für unumgänglich. Sie erst machte ihn für sein Vorhaben richtig fit.
„Nun geh nicht zu schnell, Horst, damit du nicht außer Atem kommst und wieder ins Schwitzen gerätst!“, mahnte Claudia, als er sich vor der Flurgarderobe den steifen schwarzen Hut auf den Schädel gedrückt hatte und abmarschbereit war.
„Ich weiß!“, winkte Buschinski ab.
Doch zwischen Tür und Angel fiel ihm noch ein, dass es kein Mitglied seiner Familie für nötig hielt, als Zuhörer an der Ratssitzung teilzunehmen.
Missbilligend meinte er deshalb: „Du hättest heute ausnahmsweise ruhig mal mitkommen können, liebe Claudia. Bedauerlich, dass du an meiner Tätigkeit zum Wohle unserer Stadt so gar keinen Anteil nimmst! Wirklich bedauerlich!“
„Aber, Horst, wer sagt, dass ich keinen Anteil daran nehme?“, widersprach sie mit gespielter Verwunderung.
„Ich sehe es doch! Jede andere Frau würde es für selbstverständlich halten, die großen Stunden ihres Gatten im Stadtparlament mitzuerleben. Du aber? Du interessierst dich nur für die Kekse und Kuchen, die ich in meiner Fabrik erzeuge. Was ich aber sonst noch leiste, lässt dich vollkommen kalt. Den Verein der Freunde Hans Carossas nennst du eine langweilige Gesellschaft. Und für meine parlamentarische Tätigkeit hast du höchstens spöttische Bemerkungen übrig. Das kränkt mich, liebe Claudia. Gerade du müsstest mir besonderes Verständnis entgegenbringen.“
„Ach, Horst, du missverstehst mich!“, suchte Claudia zu beschwichtigen. „Ich interessiere mich sehr für deine öffentliche Arbeit. Nur mag ich meine Anteilnahme nicht zur Schau stellen – verstehst du das nicht?“
„Hm. Nun ja, dein empfindsames Seelchen!“, lächelte er, von ihren Worten angenehm berührt. „Ich gebe zu, dass es dir schwer fallen mag, zwischen den Zuhörern zu sitzen, wenn ich den neureichen Leutchen vom Residenzplatz die Leviten lese. Doch, doch, ich verstehe dich. Ich will es gelten lassen, wenn auch wehen Herzens. Aber – was macht unser Herr Sohn? Wo steckt er denn wieder?“
„Marvin ist vorhin mit seinem Wagen fortgefahren.“
„So ist’s richtig! Während sich der Vater mit den Andenkensschändern seines großen Ahnen herumschlagen muss, macht der Herr Sohn unbekümmert einen Autobummel! Das ist also der Dank dafür, dass ich ihm den Wagen zu seinem Doktorexamen schenkte!“
„Aber, Horst, warum eireiferst du dich immer gleich? Marvin ist erst wenige Wochen wieder zu Haus. Kannst du erwarten, dass er mit seinen sechsundzwanzig Jahren darauf erpicht ist, einen Samstagabend als Zuhörer im Rathaussaal zu verbringen? Denk mal zurück, ob du in seinem Alter schon so bescheiden warst, dein Vergnügen an den Debatten kleinstädtischer Volksvertreter zu suchen!“
„Bescheiden? Vergnügen? Kleinstädtischer...? Also, Claudia, du hast eine Art, die Dinge ins Lächerliche zu verdrehen, dass ich rasend werden könnte! Ist das nicht wieder Spott und Hohn? Offenbar kannst du gar nicht anders, als meinen so ernsten und verantwortungsvollen Dienst am Wohle unserer Stadt bei jeder Gelegenheit zu ironisieren. Und auch mein Sohn und Erbe hat nicht das geringste Interesse dafür. Soll ich mich darüber freuen?“
„Du siehst alles zu schwarz, Horst“, entgegnete Claudia einlenkend. „Wenn wir auch nicht Zeuge deines Triumphes über Herrn Kälberer und Genossen sein werden, in Gedanken sind wir bestimmt bei dir. Du wirst uns doch wohl auch alles genau berichten, nicht wahr? Und außerdem können wir’s morgen doch auch haarklein im PNP lesen.“
Buschinski schnaufte erregt. Aber er wusste, dass er gegen die ruhige Bestimmtheit seiner Frau in dieser Sache nichts erreichen konnte. Sie hatte nun mal ihren Kopf für sich. Zudem drängte die Zeit.
„Na, schön!“, meinte er schließlich versöhnlich. „Vielleicht würde mich eure Anwesenheit unter den Zuhörern bei der Auseinandersetzung auch nur irritieren. Wünsch mir wenigstens einen großartigen Erfolg, Claudia!“
„Ja, von ganzem Herzen!“, rief sie lachend. „Und nun geh, lieber Horst! Ich glaube, draußen wartet man schon auf dich.“
In der Tat, vor der Villa pendelten seit einer Viertelstunde zwei Herren in eifrigem Gespräch auf und ab. Es waren der hochaufgeschossenen, unheimlich dürre Studienrat Dr. Franz Weißnicht,