Als der Fluss zu Staub zerfiel. Sabine Walther. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine Walther
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742772602
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neue Grippe selbst. Aber ein Zusammenhang existierte nicht.

       Eine 17-jährige Schülerin, die mit Poritz geimpft worden war, erleidet einen Zusammenbruch in der Schule und stirbt im Krankenhaus. Ursache waren Vorerkrankungen, kein Zusammenhang nachweisbar.

      Salettas Hirn arbeitete im Akkord. Dass es zeitliche Zusammenhänge zwischen der Impfung und den Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen gab, war deutlich und niemand leugnete das. Aber es ließ sich keine lückenlose Kausalität herstellen. Damit einer der Geimpften einen schweren Schaden erlitt oder gar am Impfstoff verstarb, musste immer noch ein weiterer Faktor hinzukommen. Eine Vorerkrankung, eine allergische Reaktion, irgendein dritter Faktor, der dafür sorgte, dass die Impfung das Gegenteil von dem bewirkte, was sie leisten sollte.

      Interessanterweise ließ sich dieser Gedanke aber auch umdrehen. Es gab bei denjenigen, die sich an dem neuen Grippetypus infiziert hatten und gestorben waren, keinen hundertprozentigen Nachweis, dass das Virus allein schuld war. Auch hier waren stets weitere Umstände hinzuzuziehen.

      Auch Mascha war ja nicht unmittelbar an den Folgen des Impfwirkstoffes gestorben. Sie war nur so müde und unkonzentriert, dass sie falsch reagiert hatte und auf die Straße gerannt war.

       Europäische Datenbank meldet erste Narkolepsiefälle infolge der Impfung. Allerdings sei nicht der Impfstoff allein wirkursächlich. Erschwerend müsse eine Entzündung oder Infektion hinzukommen.

      Saletta hielt inne, markierte den Begriff Narkolepsie mit drei Ausrufezeichen. Natürlich wusste sie, dass letztlich alles ihre Schuld gewesen war. So hatte es ihr ja auch der Polizeisprecher klargemacht, als sie ihn immer wieder darauf hinwies, dass ihr Kind keinesfalls auf die Straße gelaufen sei, wie es Kinder leider häufig tun. Dass es einen Grund dafür gegeben haben musste und dass dieser Grund ihrer Ansicht nach darin bestand, dass Mascha durch die Impfung verwirrt gewesen war und schließlich einen Anfall erlitten hatte.

      Warum sie ihre Tochter dann überhaupt aus dem Haus gelassen hätte, schnauzte er sie an. Und außerdem sei das ohnehin alles Quatsch mit dieser Impf-Panik. Und falls sie psychologische Betreuung bräuchte, dafür sei er nicht zuständig.

      Seine Worte hatten Saletta, die sich längst in die kühlen Regionen des Denkens verkrochen hatte, nicht mehr erreichen können. Ruhig und kalt wie ein Auftragsmörder, der demütig die für seinen Job nun mal erforderlichen Vorbereitungen trifft, hatte sie ihm zugehört. Wusste, allein ihr Verstand konnte sie noch retten, konnte sie wieder einmal retten, es durfte nur nicht der Hauch einer Emotion zu ihm durchdringen. So hatte sie dem Polizeisprecher für die hilfreichen Informationen und den gut gemeinten Rat gedankt und war gegangen.

      Am Nachmittag hatte sie einen Termin mit dem Reporter der Bremer Wochennachrichten auf ihrer Liste, der über Maschas Tod wie über einen gewöhnlichen Verkehrsunfall berichtet hatte.

       Unfall in Bremen: Kind läuft vor Auto

       Am Freitag, dem 18. September 2009, gegen 18:05, fuhr eine unbekannte Fahrerin auf der Neuenlander Straße stadtauswärts. Eine 8-jährige Schülerin befand sich mit ihrer Mutter an der Ampel in Höhe des Einkaufszentrums. Plötzlich löste sich die 8-Jährige von der Hand ihrer Mutter und rannte auf die Fahrbahn, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten. Sie wurde von dem PKW erfasst; die Fahrerin beging anschließend Fahrerflucht. Die Schülerin erlag noch am Unfallort ihren Verletzungen.

       Zeugen beschrieben die Fahrerin des schwarzen Audi, nach der noch gefahndet wird, als dreißig bis vierzig Jahre alt und rothaarig. Der Polizeisprecher sagte: „Das Mädchen ist – wie es Kinder leider häufig tun – achtlos auf die Straße gelaufen, daher trifft die Fahrerin am eigentlichen Unfall keine Schuld. Dennoch hätte sie anschließend anhalten müssen, daher ist mit einer Strafe zu rechnen.“

      Saletta ärgerte sich über die achtlose Formulierung. Aber der Reporter konnte ja nicht wissen, was wirklich geschehen war. Sie musste ihm die Fakten liefern, Fakten, die beweisen würden, dass Mascha nicht einfach auf die Straße gerannt war, sondern an den Folgen der Impfung gelitten hatte.

       Nebenwirkungen: Schlaflosigkeit, Benommenheit, Schwindel, Fieber, Desorientierung, Halluzinationen.

      Sie hatte ihn mit ihren Recherchen konfrontiert. Aber er hatte nur abgewinkt. Kein Thema für unsere Leser, meinte er. Alles viel zu vage. Zu viele Verschwörungstheorien. Er könne ihr aber Seiten von Impfgegnern nennen, die gern darüber berichten würden … Saletta hatte dankend abgelehnt. Weder verstand sie sich als Impfgegnerin noch folgte sie irgendwelchen Verschwörungstheorien. Sie wollte einfach verstehen, was geschehen war. Sie musste wissen, wer schuld war.

      Aus dem Augenwinkel erblickte sie ihre Kleine, wie sie fiebernd nach Hause gekommen war. Wie durcheinander sie gewesen war. Lauschte noch einmal ihrer Freude, als sie die vermeintlich neue Tapete bewunderte: Wie hast du das gemacht, Mama.

      Der Polizeisprecher hatte recht: Sie hätte sie nicht mitnehmen dürfen. Sie hätte ein einziges Mal auf ihre innere Stimme hören müssen. Gib nicht nach, dieses eine Mal nicht!

      Alle Zeichen hatten auf Sturm gestanden und sie gewarnt, aber sie hatte sie nicht wahrhaben wollen, wollte ihrem Verstand gehorchen, wollte ihr Kind schützen, indem sie sich der Norm beugte, ihre Intuition missachtete. Sie hatte ihr Kind ihrem unbedingten Willen nach einer logisch geordneten Welt geopfert.

      Das Gesicht verschwand aus ihrem Blickfeld, die Stimme verstummte und es wurde Zeit zu bemerken, dass sie noch einer weiteren Täuschung erlegen war. Sie hatte gedacht, sie könne bereits alle Gefühlsregungen von sich fernhalten. Sie hatte erwartet, eiserne Disziplin würde ihr helfen, nie wieder etwas zu empfinden. Sie hatte gemeint, sie käme schon allein zurecht. Aber der Schmerz, der sie in diesem Moment ergriff, war so undefinierbar und dumpf, dass sie ihn nicht wegerklären, dass sie ihn nur noch durch einen Gegenangriff bekämpfen konnte.

      Rasch nahm sie die Schere vom Tisch und ritzte sich damit so lange in die Haut ihres Unterarms, bis der körperliche Schmerz den seelischen übertraf und sie schließlich gezwungen war, die Wunden zu verbinden. So wie damals, als zum ersten Mal ein schwarzer Audi ihre Lebenslinie gekreuzt hatte.

       Erinnere dich endlich, Saletta!

      4. Auserwählte wider Willen

      Der Anrufbeantworter blinkte und zeigte 15 versäumte Anrufe an, aber Saletta war alles egal. Ihre Wunden schmerzten, der Verband klebte daran fest. Ihre Hände waren geschwollen, sie konnte kaum das Messer halten, um sich ein Brot zu schmieren. Sie hatte ohnehin keinen Hunger. Wozu kämpfen. Alle Menschen, die ihr je etwas bedeutet hatten, waren tot. Bis auf Sascha – den sie aus ihrem Leben vertrieben hatte. Ihre gemeinsamen Freunde, die zu ihm hielten, weil sie Salettas heftige Reaktion nicht verstanden. Und natürlich Jenny, von der sie aber ewig nichts gehört hatte.

      Ganz unten im Regal fand sie das alte, verstaubte Fotoalbum. Unter Schmerzen zog sie es hervor, blätterte darin. Jenny und sie bei ihrer Einschulung. Mit Jenny und ihrer Mutter im Serengeti-Park. Jenny bekommt eine Zahnspange ...

      Ihr sechzehnter Geburtstag: Total verheult und mit einer dick angeschwollenen Wange sitzt sie neben Jenny auf dem Sofa, die tröstend den Arm um sie legt. Jenny, die nur ein Jahr älter ist als sie, und deren Mutter – ohne diese beiden hätte sie ihre Kindheit nicht überstanden. Ihre eigenen Eltern waren ihr immer nur unheimlich, monströs, kalt und gewissenhaft vorgekommen. Und forderten Unheimliches, Monströses von ihr. Sie hielten ihre Tochter für hochbegabt und hatten sie daher bereits im Alter von fünf Jahren einschulen lassen. Sie meinten einfach, ein Kind, das bereits lesen, schreiben und rechnen könne, solle seine Zeit nicht mit Spielen vertrödeln.

      Saletta fügte sich dem Willen ihrer Eltern, fürchtete sich aber gleichzeitig vor der Schule. Sie hatte bereits viel von Jenny über die Kinder aus den anderen Straßen gehört und wusste, dass sie in vielem ganz anderer Meinung waren als ihre Eltern. Sie hassten die Schule, sahen nicht ein, warum sie den ganzen Blödsinn dort lernen sollten, und versuchten sich mit