Sabine Walther
Als der Fluss zu Staub zerfiel
Roman
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Inhaltsverzeichnis
6. Faktor X und ein unerwarteter Ratschlag
14. Pater Benedikt und ein seltsames Ritual
20. Gesellschaft für Lebensoptimierung
23. Ein Fluss zerfällt zu Staub
1. Warnung und Leugnung
Mascha hatte heftig auf den Impfstoff reagiert, sich mehrmals erbrochen und wurde daher schon am Freitagvormittag nach Hause geschickt. Die Internatsleitung hatte ihre Mutter, Frau Dr. phil. Saletta Schönbrunn, telefonisch in Kenntnis gesetzt, alles sei normal verlaufen, die heftige Reaktion im Grunde nur ein Zeichen dafür, dass der Impfstoff wirke, also letztendlich positiv zu bewerten.
Saletta Schönbrunn unterdrückte ihren Impuls, die Schulleiterin am Telefon erneut auf ihre Einwände hinzuweisen; alle Eltern hatten sich gemeinsam für die Impfung entschieden, sie musste nicht gegen Wände rennen, wollte nicht, dass ihr Kind ausgegrenzt würde, dass die anderen ihm etwas hinterherriefen, dass es nicht mehr eingeladen wurde, weil die Eltern fürchteten, es sei vielleicht infiziert. Ihr Kind sollte die sinnlosen Kämpfe, die ihre eigenen Eltern ihr ständig aufgezwungen hatten, nicht durchstehen müssen. Es war nicht schuld am Übel der Welt und es sollte so normal wie möglich aufwachsen dürfen.
Der internatseigene Schulbus hielt direkt vor dem hellen freundlichen Einfamilienhaus und für Saletta war es befremdend, ihre Tochter als einzigen Fahrgast darin zu sehen. Noch bevor das Mädchen ausstieg, erkannte seine Mutter, dass es ihm wirklich schlecht gehen musste, denn es brauchte einige Momente, um Tasche, Jacke und Sportbeutel zu sortieren und lief dann zunächst zum hinteren Ausstieg, obwohl der Fahrer, der nervös auf seine Uhr blickte, die vordere Tür bereits geöffnet hatte. Es war völlig durcheinander, wirkte blass und erschöpft.
Besorgt nahm Saletta ihre Tochter in die Arme, rief dem Fahrer noch ein Dankeschön hinterher und führte ihre Tochter ins Haus. Nur nicht aufregen, dachte sie, ein Teller Hühnersuppe und ein wenig Ruhe werden es schon richten!
„Mama, weißt du, was ich mir unbedingt wünsche?“ Saletta schreckte hoch, sie war auf dem Schlafsofa neben Mascha für einen Moment eingenickt. Fühlte deren Stirn, während das Kind schon weiterplapperte. „Da gibt es so Karten, weißt du, die sammelt man und dann hat man eine höhere Stufe oder ein zweites Leben oder so und …“
Saletta hörte nur mit halbem Ohr zu, Maschas Wünsche waren so ungezählt wie unerschöpflich. Immer gab es etwas, das irgendein Kind hatte, sie aber nicht, und das zur dringenden Herzensangelegenheit erklärt wurde.
„Mama, ich sterbe, wenn ich diese Karten nicht bekomme, …“
Aber warum zitterst du denn nur, arme Saletta?
„Mascha! So etwas sagt man nicht. Spar dein Taschengeld, dann kannst du sie dir selbst kaufen!“
Manchmal hasste Saletta die Lebensart, in die ihre Tochter hineinwuchs, hasste vor allem diese Nachbildungen von religiösen oder spirituellen Weltbildern in Comicform, die Sinnentstellung von allem, was eine fragende Lebenshaltung ausmachte. Andererseits: Sollte sie ihr von klein auf alles verbieten, was ihr erstrebenswert schien? Sollte sie ihr – so wie ihre eigenen Eltern es getan hatten – den ständigen Schmerz bereiten, alles, was sich in ihrem kleinen Herzen an Wünschen ansammelte, als Schund abzutun?
Sie handelte gegen ihre Überzeugungen, aber wie heißt es so schön? Kinder sozialisieren einen. Oder gehen in den Gefechten der Erwachsenen unter. Und schließlich war sie noch nicht einmal gläubig. Sie war Wissenschaftlerin, unbestechlich und rational, der Logik des Faktischen verhaftet.
Mascha war der einzige Schwachpunkt in ihrem Leben. Nie konnte sie das Mädchen anschauen, ohne sentimental zu werden. Ihr helles Haar schien Licht abzugeben, ihre blauen, vom Vater geerbten Augen strahlten vorbehaltlos und ohne Argwohn in die Welt, sie war von Grund auf ein gutherziger Mensch, Abbild jenes Mannes, den Saletta nach wie vor von ganzem Herzen liebte. Von dem sie sich aus genau diesem Grund getrennt hatte, denn nichts empfand sie als schlimmer als das allmähliche Umschlagen ihrer Liebe in ein alltägliches Genörgel.
Ihre eigene Kindheit war von dem einzigen Wunsch erfüllt gewesen, normal sein zu können, sein zu dürfen wie alle anderen auch. Und dann traf sie endlich Sascha und erlebte dieses Wunder. Verliebt waren sie, taten, was alle taten, gingen auf die Kirmes, ins Restaurant, führten nächtelang Gespräche, liebten sich an allen möglichen