Irgendwann, es schien jetzt ewig her zu sein, hatten sie feierlich gelobt, dass, wenn sie erst groß wären, sie nicht heiraten, sondern sich gemeinsam ein stattliches Anwesen kaufen würden, eine Art Festung, uneinnehmbar und unzerstörbar wie ihre Freundschaft, das Wirklichkeit gewordene Domizil, für das die Pyramide immer die Metapher gewesen war. Sie würden sich – Tims Idee – drei Hunde zulegen, für jeden einen, und dort gemeinsam leben, glücklich und zufrieden, bis an ihr Lebensende. Die Finanzierung wäre kein Problem, denn sie würden alle gut verdienen, und außerdem sorgten bekanntlich nur Frauen im Leben eines Mannes für Geldprobleme. So hatten ihre Pläne ausgesehen. Jetzt auf einmal schien sich als Illusion, als Märchen herauszustellen, womit es Tim immer ernst gewesen war – den andern nicht? Jetzt auf einmal entpuppte sich ihre gemeinsame Festung als Luftschloss ohne jedes brauchbare Verteidigungsbollwerk gegen den erbarmungslosen Ansturm der Zeit, die, wie sich jetzt erwies, nicht nur Wunden heilen, sondern auch neue reißen konnte, die nagte, bis etwas unbrauchbar, grausam entstellt oder komplett verschwunden war. Sie hatte sich herangepirscht an das ruhige Gestade ihres Freundschaftsidylls und plötzlich zugeschlagen. Mit ihr gekommen waren diese neuen, fremden Mächte, eine tückische Nachhut, die seine besten Freunde auf einmal von »geilen Bräuten« faseln und über ebenso billige wie dreckige Witze lachen ließ, über impotente Männer beim Onkel Doktor, Huren im Fahrstuhl oder Mädchen wie Alexandra von Moers, die, wie er Hasso hatte sagen hören, angeblich »keine Möpse sondern Pingpong-Bälle unter der Bluse« hatte. Wie Symptome einer gemeinen Krankheit kamen diese Ausfälle über sie, und Tims behütete Welt stürzte drohte einzustürzen wie ein Kartenhaus bei Windstärke zehn. Er fühlte sich hintergangen, verraten, im Stich gelassen.
Aber seine Freundschaft zu Hasso und Kirri war ihm zu wertvoll, um sie ihnen aus Anlass dieses kleinen Skandals aufzukündigen. Er konnte nicht alles hinschmeißen, nicht einfach über Bord werfen, was sie verband. Schließlich lag er weiterhin mit ihnen auf einer Stube, da war ein Dauerstreit wenig dienlich. Und wen hatte er auch sonst? Seine Freunde waren seine Familie. Doch wenn sie auch Freunde blieben, nie mehr erschienen Kirri und vor allem Hasso ihm in jenem makellosen, fast verklärenden Licht der Vergangenheit. Immer sah er an ihnen das breite Grinsen über Achims fade Witze und das blöde Entsetzen über seinen Wutanfall, sah in ihnen die Dissidenten, die Ketzer. Nie vergaß er, mit wem er es zu tun hatte, und es verging kein Tag, an dem er nicht heimlich verächtliche Blicke auf die in Sünde Gefallenen warf. Niemanden aber schmerzten diese Blicke mehr als Tim selbst. Insgeheim hoffte er auf eine Wiederherstellung des Status quo, des Alten. Aus seiner Bibellektüre wusste er: Jeder Mensch, der in Sünde fällt, hat zu jeder Zeit auch die Möglichkeit zur Buße und Umkehr, solange noch nicht der endgültige Tod eingetreten ist. Aber das war ihre Sache. Damals im Bellini hatte er das Wesentliche gesagt – und in welcher Deutlichkeit! Den Rest mussten sie selbst herausfinden. Sie mussten jetzt von sich aus die Wahl treffen, was sie wollten: Bündnistreue oder Verrat. Für Tim gab es da keine Wahl. Und dass es verführerische Mächte waren, die einen zum Verräter machten, ließ er nicht als Einwand gelten.
Seine stillen Hoffnungen erfüllten sich nicht. Im Gegenteil: Wie ein Geschwür setzte sich fest und breitete sich in der nächsten Zeit aus, woran Tim Anstoß nahm und was seine Freunde ihm entfremdete, ein Geschwür, gegen das ihre Freundschaft keine Abwehrkräfte entwickelte. Wie Aussätzige kamen sie Tim vor. Doch normalerweise bilden die Aussätzigen eine Minderheit. In der von ihm mit Sorge beobachteten Lage aber war er die Minderheit. Er hatte nicht glauben wollen, was er im letzten Schuljahr in Biologie über Verhaltensänderungen während der so genannten Pubertät gelernt hatte. Die Lehrerin hatte ihm weismachen wollen, plötzlich kämen neue Interessen auf und neue Kontakte und Freundschaften entstünden auf Kosten der alten. Auf ihn selbst, Hasso und Kirri übertragen, war ihm das absurd und absolut lachhaft vorgekommen – nun nicht mehr. Und dafür machte Tim ausschließlich den Verhaltens- und Interessenwandel der anderen verantwortlich. Sich selbst sah er dagegen als konstante Größe. Ihn konnte kein Vorwurf treffen. Er hatte nichts von dem verraten und verkauft, was ihm stets wert und wichtig gewesen war.
Es war eine alte Tradition, dass Hasso und Tim von Zeit zu Zeit zusammen ins Kino gingen. Kirri war nur selten dabei. Das lange Stillsitzen behagte ihm nicht sonderlich. Das kleine Savoy-Kino unten in der Stadt zeigte einmal in der Woche einen Klassiker der Filmgeschichte. Und darunter waren einige Streifen, die sie auf schwer erklärliche Weise ansprachen: Meisterwerke des Melodrams wie Die Reise nach Palermo oder Die alles begehren, große Epen wie Doktor Schiwago oder aus der Art geschlagene Western wie Spiel mir das Lied vom Tod. Sie liebten beide Teile des Paten und litten mit Robert De Niro und Meryl Streep in Die durch die Hölle gehen. Filme waren das, die das »gewisse Etwas« hatten, das gar nicht genauer definiert werden musste. Sie beide wussten auch so, was es war: ein gewisser Anspruch, eine eigentümliche Atmosphäre, ein Inhalt oder eine Erzählweise, die innerlich bewegten, etwas in ihnen zum Klingen brachten oder doch wenigstens zum Nachdenken anregten. Ein richtig guter Film war auf alle Fälle nur einer, der ihnen auch am nächsten Tag noch im Kopf herumging, da waren sie sich einig. Manchmal diskutierte Tim mit Hasso tagelang über bestimmte Szenen eines Films, ihre Bildsprache und Wirkung. Es waren anregende, wertvolle Gespräche. Natürlich gab es auch mal ein Werk dazwischen – vielleicht eines, zu dem Kirri sie überredet hatte –, das nicht das gewisse Etwas besaß, wobei einschränkend zu sagen ist, dass nicht jeder Actionfilm, jenes Genre, das Kirri, weil er sämtliche Stunts »ächt ärre« fand, bevorzugte, für sie gleich ein schlechter Film war. Doch dass Hasso zunehmend auf Kirris Geschmack bei der Auswahl eines Films einschwenkte, war damit allein nicht zu erklären. Vielmehr schien es, dass Hasso an den intensiven Gesprächen von früher nicht mehr interessiert und dass ihm die Art Filme, deren sie gemeinsam schon so viele gesehen hatten, langweilig geworden war. Sie kamen zuletzt einfach auf keinen gemeinsamen Nenner mehr. Tim schlug irgendeinen Film vor, der seiner Ansicht nach das gewisse Etwas hatte, aber Hasso wollte »zur Abwechslung« mal was »mit Action« oder was »zum Ablachen«, und Kirris Meinung stand sowieso von vornherein fest. »Man muss doch nicht andauernd diese langen, epischen Dinger sehen«, verteidigte Hasso seinen Standpunkt.
»Damit hattest du doch sonst auch keine Probleme!«
»Timmi, nerv nicht, lass uns diesmal was leicht Verdauliches gucken, o.k.? Einfach nur so zum Spaß, zur Unterhaltung und Entspannung, ohne intellektuellen Tiefgang«, gab sich Hasso konziliant.
»Genau, den mit Bud Spencer!«, rief Kirri.
»Nächstes Mal sehn wir dann wieder einen von deinen Filmen.«
Aber Bud Spencer, Chuck Norris und James Bond, das war einfach nichts für Tim, wenn er sich auch noch so sehr um Kompromissbereitschaft bemühte. Und was hieß überhaupt seine Filme? Waren es früher nicht ihre Filme gewesen? Jetzt auf einmal zog Hasso eine radikale Trennlinie und stellte sich demonstrativ auf die andere Seite von ihr. Er machte sich stark für Filme, deren Inszenierungen aufdringlich waren, klischeehaft die Figuren, inhaltslos und vorhersehbar die Plots. Tim fand sie schlicht erbärmlich, und er fühlte sich jedes Mal um Geld und Zeit betrogen, wenn er endlich das Kino wieder verlassen konnte. »Die Zeit«, ärgerte er sich, »hätte ich auch billiger verplempern können als mit diesem schwachsinnigen Film.« Und das war nach seinem Empfinden noch ein mildes Urteil. Dabei gab es doch auch Filme, die alle drei mochten, Italowestern etwa wie Zwei glorreiche Halunken. Den hatten sie einst gemeinsam in einem Kieler Programmkino gesehen. Warum wählten