Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee. Thomas Riedel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Riedel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746738116
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eben Tradition«, meinte Marshall lachend. »Es dauert bis zum frühen Morgen, mit allerhand Jux, der, wie ich zugeben muss, nicht immer sehr vornehm ist.«

      Es waren mehr Menschen am Bahnhof, als Dr. Finch vermutet hatte. So ziemlich die gesamte Einwohnerschaft von Little Gaddesden hatte die fünf Meilen nach Berkhamsted auf sich genommen, mit Ausnahme von Marvin Cooper und seiner Tochter. Elizabeths Vater hätte sein Atelier nicht einmal dem Erzengel Gabriel zuliebe verlassen, und sie war unterwegs, um die Papierhüte und das übrige Zeug für die Feier zu beschaffen. Man fand zwar, dass sie die Besorgung auch am Tag zuvor hätte erledigen können, aber sie war allgemein sehr beliebt, und es wurde nicht viel über sie geklatscht.

      Stanley und Pauline Kennedy waren ebenfalls da, und ihr Mann befand sich im Bahnhofshotel, ›um sich in Stimmung zu trinken‹, wie Marshall sagte. Da waren auch noch William Chapman und Jack Taylor, der Bezirksanwalt und einzige Rechtsanwalt der Gegend, und natürlich auch Miss Uppingham. Am andern Ende des Bahnhofes, abseits der allgemeinen Menge, stand der junge Kenneth Jackson, der immer wieder auf seine Taschenuhr blickte, als wollte er dadurch die Ankunft des Zuges beschleunigen. Violett Stamford, ebenfalls abseits, schlank und elegant in ihrem pelzbesetzten Mantel, sprach mit einem distinguierten Herrn mittleren Alters, der einen ausgezeichnet geschnittenen Anzug trug und aus einer elfenbeinernen Spitze eine Zigarette rauchte.

      »Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Finch.

      Marshall nahm den Strohhalm, an dem er kaute, aus dem Mund und brummte: »Das ist der ehrenwerte Richter Terrence Brown.«

      »Ein Einheimischer?«

      »Nein, ein Zugezogener. Er war zuvor am ›Old Bailey‹ in London. Hat sich aber vor ein paar Jahren zur Ruhe gesetzt und lebt seitdem hier … Ist ein komischer Kerl.«

      Von weitem hörte man die Lokomotive pfeifen, und alles lief hin und her. Nur Kenneth Jackson stand plötzlich still und bastelte an seiner Pfeife. Kinder liefen den Erwachsenen zwischen den Beinen herum und trieben ihren Unfug. Finch sah lächelnd dabei zu, wie ein paar Buben einen Kranz leerer Blechdosen an Violetts Pferdegespann anbrachten. Irgendwo in der Menge begann der Lärm, mit Pfannen und Deckeln, Glocken und allen möglichen Instrumenten, als wollte man in Stimmung kommen, obgleich der Zug noch gar nicht in Sicht war.

      Endlich erschienen über der letzten Biegung die ersten Rauchwölkchen der schweren Lokomotive, und schließlich, mit melancholischem Warnsignal, der Zug. Er fuhr schnaufend ein und kam quietschend zum stehen. »Willkommen!«, rief der Menschenauflauf und jubelte, wodurch sich der Lärm noch weiter steigerte.

      Charles Finch bemerkte zwei große Überseekoffer, die über und über mit Hotelzetteln beklebt waren, und dann erschien Harold Stamford – der Held des Tages. Finch war beeindruckt. Stamford war groß und dunkel und beinahe zu schön für einen Mann. Er sah aus wie ein erfolgreicher Theaterschauspieler, der von einer grandiosen Europatournee zurückkam. Seine Kleidung wirkte irgendwie überladen, fast so, als wäre die Grenze des guten Geschmacks erreicht.

      Jubelnd umringte ihn die Menge. Dr. Finch kletterte schamlos auf einen Gepäckkarren, um sich nichts von dem Schauspiel entgehen zu lassen. Er sah die zwei recht gleichgültigen und nur angedeuteten Küsse, mit denen Harold seine Frau begrüßte – auf jede Wange einen. Er bemerkte die warmen Händedrucke vieler anderer, die er nicht persönlich kannte, aber von denen er bereits einige zuvor im Ort gesehen hatte. Er sah, dass sich weder Chapman noch Jackson nach vorn gedrängt hatten, um ihm die Hand zu schütteln und wie Stamford nach Jackson Ausschau hielt, um ihn zu umarmen. Dabei entging ihm nicht Kenneth Jacksons blasse, ungesunde Gesichtsfarbe. Zuletzt, als der Zug bereits wieder abgefahren war, ersuchte Richter Brown die versammelte Menge um Ruhe.

      »Mein lieber Harold, man hat mich beauftragt, eine Willkommensrede zu halten«, begann er mit seiner kräftigen Stimme.

      »Hört, hört!«, schrie jemand aus dem Publikum.

      Die Stimme des Richters war warm und geschult. »Ich hatte eine Rede vorbereitet«, fuhr er fort, »doch die Freude, Sie wiederzusehen, hat sie aus meinem Gedächtnis vertrieben. So will ich nur sagen, dass wir glücklich sind, Sie wieder heil und gesund zurück in unserer Mitte zu sehen!«

      Applaus kam auf, gefolgt von weiterem Händeschütteln, Lärm, Pfannenschlagen und Glockengebimmel, während Stamford und seine Frau langsam zur Kutsche schritten. Die Überseekoffer wurden hinten aufgeladen. Dann kletterte Stamford auf die Kutschbank neben seine Frau, und ließ die Pferde antraben. Man erließ ihnen den Rest der Katzenmusik und war so gnädig, sie ihre Wiedervereinigung allein feiern zu lassen – was sie auch taten.

      *

      Zu Hause angekommen, zog Violett Stamford ihren pelzbesetzten Wintermantel aus und ging in das holzgetäfelte Studio. Dort goss sie gerade zwei Drinks ein, als ihr Mann eintrat. Sie wandte sich ihm zu und sah in diesem Augenblick besonders kühl und reizend aus.

      »Nun, Liebling«, sagte sie in spöttischem Ton, »hast du keine wärmere Begrüßung für mich als die zwei keuschen Küsse am Bahnhof?«

      »Gewiss habe ich eine!« Er hob die Hand und gab ihr eine Ohrfeige – so beißend stark, dass sie zurücktaumelte und auf die Couch fiel. »Ist diese Begrüßung warm genug für dich?«, fragte er darauf, mit einem bösen Funkeln in den Augen.

      ***

      Kapitel 9

      Das Haus war vom Keller bis zum Dachboden hell erleuchtet. Pauline Kennedy hatte alles festlich geschmückt, Mit unzähligen Papierschleifen und Lampions – Überbleibseln der Gartenfeste aus Major Saunders' Tagen. Der Platz zwischen dem Haus und den Ställen, den früher der Gemüsegarten eingenommen hatte, diente jetzt als Stellplatz für Pferde und Kutschen. Stanley hatte vorausschauend eine Sturmlaterne an den Weidenbaum gehängt, damit niemand versehentlich in das leere Schwimmbassin fuhr.

      Die ganze Siedlung schien anwesend zu sein – arm und reich. Es schien als sollten an diesem Abend alle Meinungsverschiedenheiten vergessen werden. Die Cunningham-Boys spielten ordentlich auf. Alkohol gab es in Hülle und Fülle. Sogar Richter Brown beteiligte sich am Tanz. Auch Charles Finch, der weder trank noch tanzte, unterhielt sich augenscheinlich ausgezeichnet. Violett Stamford, die in einem atemberaubenden Kleid erschienen war, durfte keinen Tanz auslassen. Sie fiel wie immer aus dem Rahmen und brachte die anderen Damen in Rage, aber die anwesenden Herren reagierten exakt so, wie sie es sich gewünscht hatte: Sie war der unumstrittene Mittelpunkt des Abends.

      Harold Stamford schien ein wenig niedergeschlagen zu sein. Er trank schnell und heftig, um sich aufzuheitern. Finch versuchte ein- oder zweimal, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, doch jedes Mal wurde der Ehrengast abgelenkt.

      Die Coopers kamen zeitig, und Miss Uppingham bemerkte, dass Elizabeth mit Kenneth Jackson tanzte, als hätte ihre Freundschaft niemals eine Unterbrechung erfahren. Marvin Cooper gefiel das ganz und gar nicht, und er versuchte, an der improvisierten Bar mit Violetts Mann um die Wette zu trinken.

      Der größte Misston des Abends war Raymond Kennedys Benehmen. Sooft es ihm möglich war, flirtete er mit Mrs. Stamford, vor allem dann, wenn er wusste, dass ihn seine Frau beobachtete. Dabei stellte er lautstarke Vergleiche zwischen Violett und den anderen Damen an, die für letztere nicht gerade schmeichelhaft waren.

      Stanley, der sich anfangs gut unterhalten hatte, zog sich bald zurück. Er schämte sich für seinen Vater und war wütend auf ihn. Als er aus der Küche zurückkam, wo er ein Glas Wasser getrunken hatte, stieß er in der Vorhalle auf ihn, wo er engumschlungen in einer dunklen Ecke mit Mrs. Stamford stand. Das war für ihn zuviel und er hielt es nicht mehr aus. Sofort stürzte er aus dem Haus, über den Stellplatz zu den Ställen.

      Dort, wo früher die Pferdegeschirre hingen, hatte Stanley sich einen Bastelraum eingerichtet. Ein altes Bett stand darin. Er legte sich hin, deckte sich mit einer mottenzerfressenen Pferdedecke zu und starrte vor sich hin. Tränen brannten in seinen Augen, und sein Körper schüttelte sich in wildem Schluchzen. Nach einer Weile fiel er erschöpft in festen Schlaf.

      Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, als er vor Kälte erwachte. Er hörte Musik – also war die Feier noch nicht zu Ende. Er wollte nicht ins Haus