Stirb. Ahmad Ataya. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ahmad Ataya
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748595939
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Schloss und Riegel gewandert waren, und er allein ohne Kollegen um ihn herum, hatte er damals die Beherrschung über seine Kniebänder und Kiefermuskeln vollends verloren – als wäre er an einen blanken Stromkabel geraten. Er hasste den Jammerlappen, den er gegeben hatte, die bloße Erinnerung daran. Für Sekunden hatte er an sich gezweifelt, an seiner Eignung als Chefkriminaler. Diesmal in seinem Büro war es nicht viel anders gewesen. Er hatte seine Ledertasche in die Ecke hingeworfen und atmete schwer schnaufend aus und ein. Seine Lungen hatten in diesem Moment die doppelte Atemluftmenge gebraucht. Er rief bei der Zentrale an, wo er gerade hergekommen war. Was Neues im Fall Milde? Ja, hieß es damals - und ob. Zwei Kollegen würden schon am Haus im Kurviertel nach dem Rechten schauen und möchten den Schlüsseldienst bestellen, hatte der Beamte ihm berichtet. Sie hätten an der Tür mehrmals geklingelt, gehämmert und laut gerufen. Es hätte sich niemand gerührt. Der Fernseher wäre nach wie vor bis auf die Straße laut zu hören gewesen.

      Das Telefon neben Richthofen hatte geklingelt. Er musste zunächst den durchgeschwitzten Hemdkragen vom Nacken lösen, die feuchte Stirn abreiben. Währenddessen war die Haut unter seinen Achseln zusammengeklebt. Angst durchlief ihn, er fieberte, ihm wurde es mal heiß, mal kalt. Seine Augen brannten. Es schien ihm, als entglitte ihm die Herrschaft sogar über die eigenen Gehirnzellen. Es gebot sich in seiner Lage, sich wach zu halten, sich selbst zur Besinnung zu rufen. Gehirn, Herz, Augen, Beine, Knie, sie alle sollten sich seinem Willen unterordnen, ihm, Chef der Kriminalbehörde, Hauptkommissar Markus Richthofen. Mit allen acht Fingerspitzen suchte er nach den Stichen unter der Kopfhaut. Als wären seine Schläfen, beiderseits und zugleich, Dart-Scheiben, wehrlos spitzen Pfeilwürfen aus den Blutbahnen ausgesetzt. Der Willkür Einhalt gebieten, sich gegen die eigenen Schädelvenen stemmen - das musste er – und er war für seine Unerschrockenheit berühmt – sonst hätte er es nicht geschafft gehabt, soweit im Leben zu kommen. Markus Richthofen presste die Fingerkuppel gegen die verdickten Venen seines Schädels und hoffte, wieder Herr des Geschehens zu werden. Er forderte sich auf, Herrschaft über alles zu erlangen, über alles, was in ihm und um ihn geschehen war, sofort und ohne Unterlass. Das musste er, er Markus Richthofen, Kripochef und unerschrockener Haudegen. Er rieb die verdickten Venen entlang der Schläfen kräftig - auf und ab. Nässte seine Fingerkuppeln mit Spucke und massierte sie abermals, herauf und hernieder. Er rieb sich die Waden, die Knie, die Oberschenkel. Alles Blut musste fließen. Nichts durfte in und an ihm nachlassen, einsacken, ihm im Stich lassen. Nicht in dieser Stunde der persönlichen Bedrohung, so nackt, undurchschaubar und beklemmend seine persönliche Not auch war. Noch war zu dieser frühen Morgenstunde seine Sekretärin nicht aufgetaucht gewesen. Auch kein Kollege seines Kommissariats. Als er sich dann endlich aufgerafft und sich zögerlich gemeldet hatte, schoss es ihm durch den Kopf: Wenn diesem Kerl von Milde etwas zugestoßen sein sollte, dann bist du dran, Markus Richthofen - dann kannst du einpacken - bist fertig - am Ende. Seine Gehirnzellen arbeiteten wieder, fieberhaft zwar, aber sie funktionierten. Über den Lautsprecher hörte er dem Polizeibeamten vor Ort zu. Der Kollege klang distanziert sachlich. Der Fernseher wäre so laut, ob der Hauptkommissar es durch die Leitung auch mithören könnte. Zögerlich bestätigte er mit einem Ja…Ja, die Geräuschkulisse im Hintergrund. Was nun? Sollte man ins Haus? Der Techniker vom Schlüsseldienst wäre schon an der Haustür. Nicht dass drinnen Gefahr in Verzug drohe und irgendjemand dringend Hilfe brauche. Die harmlose Nachfrage ließ Richthofen damals auffahren:

      » Geht doch rein - schaut nach, vielleicht liegt der Kerl drinnen im Suff. Er lebt mit seinem Hund allein. « So kundig wollte er sich nicht geben, gar sein Wissen über Milde und dessen Lebensumstände verraten. Aber in diesem Moment irritiert, und nahezu geistesabwesend, vermochte er die eigene Zunge nicht zu bremsen:

      » Aber halt. Gleich schicke ich euch einen Kollegen von meiner Truppe nach. Wartet auf ihn «, hatte seine Stimme durch die Leitung gescheppert.

      Wenige Augenblicke später war Richthofens junger Mitarbeiter, Kommissar Herbert Kleinert, eingetrudelt. Ohne ihm auch den winzigsten Morgengruß zuzurufen, beorderte er ihn gestikulierend zu Gustav Mildes Haus im Kurviertel. Er sollte nachsehen. Irgendetwas würde dort nicht stimmen, meinten die Uniformierten vor Ort. Er sollte ihm umgehend Bescheid geben.

      Wieder allein, mit weitgeöffnetem weißem Hemd am Schreibtisch, hatte es gezuckt und gezwickt am ganzen Leib. Sollte bei Gustav Milde etwas geschehen sein, verbot es sich, sich persönlich einzuschalten. Wohl in jedem anderen Fall, allein von Amtswegen, aber doch nicht wenn es um den Widerling Gustav Milde ging. Richthofen warf sich ahnungsvoll in seinem Bürosessel zurück. Er suchte nach Wasser hinter sich und fand die Sprudelflasche im unteren Fach des Regals leer. Vor ihm bepflasterten inzwischen Meldungen über kleine und große Vergehen den Bildschirm. Es kam ihm vor, als baute das Verbrechen an diesem Morgen eine undurchdringliche Ziegelsteinmauer auf, um ihm den Durchblick zu verwehren: Flüchtlinge aufgeklatscht, zudringliche Asylanten bedrängten junge Frauen, Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim, Einbruch in einen Juwelierladen und ein Vereinshaus war zu alledem nicht verschont geblieben. Ihn vermochten die Botschaften auf seinem Bildschirm nicht mehr abzulenken. Schlag auf Schlag trafen sie seinen brummenden Schädel, wie Steinblöcke, dumpf und unaufgeregt: Eine Kette aus kleinen und großen Katastrophen einer ganz normalen Polizeinachtschicht. Richthofen raufte sich die Haare. Was dachten sich die Leute bloß? So viel Ungeduld, so viel Unverständnis – nicht zu reden von so viel Unverschämtheit. Einen Nachbarschaftsstreit, die älteste Fehde der Menschheit, vom Zaun zu brechen, das war die harmloseste Variante. Das kannte er zu Genüge. Neuerdings wegen eines Fernsehers? Das ist doch absurd, der reinste Wahnsinn. Richthofen hatte sich in diesem Moment damals ohnmächtig gefühlt, mutterseelenallein. Von wegen gegen alle Widrigkeiten gewappnet sein. Auf diesen Gau, bei dem er selbst in Verdacht geraten könnte, seinem Nebenbuhler etwas angetan zu haben, war er beileibe nicht vorbereitet gewesen. Da halfen keine 58 Jahre, 40 davon im Polizeidienst.

      Genervt hatte sich der junge Kommissar Kleinert telefonisch vom Tatort zurückgemeldet. Seine Stimme klang wie die eines aufgeregten Reporters, der sich seiner Sensationsmeldung sicher war. Vom umständlich holprigen Beamtendeutsch keine Spur. Was er und seine Kollegen vorm Haus des Gustav Milde in der Wohnidylle gleich vorgefunden hätten, hätte Rätsel aufgegeben. In der Tat sei der Fernseher von Milde bis auf die Straße zu hören gewesen. Im und ums Haus hätte außerdem Festbeleuchtung geherrscht, als würden die horrenden Strompreise den Hausherrn nicht mehr kümmern. Inzwischen schiene die Wohnstraße aufgeschreckt worden zu sein. Vor dem Haus hätte sich eine Horde leichtbekleideter, schrulliger, sinnlos gestikulierender Zaungäste gesammelt. Abwechselnd hätten die Kollegen mehrmals fest gegen die Haustür gehämmert. Ob Polizisten oder Nachbarn, sie hätten einzeln oder im Chor, den Namen des Hausbesitzers, so laut und so oft sie konnten gerufen. Keine Antwort. Von den Nachbarn hätte es gehießen, Gustav Milde lebte allein, mit seinem Hund, einem Tibeter-Apso. Nichts Neues, brummte Richthofen seinerzeit leise vor sich. Seine Frau hätte ihn schon vor Jahren verlassen. Auch das bekannt. Vielleicht mit einem Anderen, hätte eine Nachbarin gemeint. Lass sie reden, die alten Spinner. Über den Bericht seines verhinderten Radioreporters am anderen Ende der Telefonleitung war er keineswegs belustigt. Nach und nach konnte er es sich jedoch nicht verkneifen, die telefonische Reportage mit leisem Schmunzeln zu begleiten. Zum ersten Mal lockerte sich Richthofens verbitterte Miene auf. Es schien ihm zu helfen, sich für eine Weile zu entspannen. Der zweite uniformierte Kollege hätte sich durch die dichtgewachsene Hecke hindurch gezwängt und spähte durchs Küchenfenster, ob sich in der Wohnung etwas täte, so der verkappte Reporter weiter. Nichts Ungewöhnliches - keine Menschenseele. Nur zwei Hausschuhe - unordentlich hingeworfen - hätten herumgelegen, ebenso ein umgekippter Küchenstuhl. Am Ende der langen Grundstückseinfahrt stünde die Garage - verschlossen. Durch das verschmierte Seitenfenster sei ein roter langgezogener Dodge-Schlitten zu sehen. Es sei anzunehmen, dass der Hausbesitzer nicht mit seiner Limousine auf Tour gewesen ist. Ist es sinnvoll, voreilig die große Keule zu schwingen und ins Haus hineinzugehen? Es könnte sich als voreilig herausstellen. Jetzt horchte Richthofen auf. Sein Rachen tat ihm weh - bittere Trockenheit im Hals. Sein Schweißausbruch vernebelte ihm auch das Denken. Er schließe nicht aus, beim ganzen Theater handelte es sich um eine Lappalie aus der Abteilung widerlicher Rauschschlaf des Hausherrn im Suff, fuhr sein Mitarbeiter über die Leitung fort. Der junge Kommissar schien keine Anstalten machen zu wollen, den eigenen Redefluss zu unterbrechen. Richthofen ließ ihn gewähren, hörte nicht mehr genau hin. Er musste nur teilnahmslos klingen, sagte sich