Pytlik hob entschuldigend die Hände und tippte mit der Fingerspitze ein paar Krümel vom Tisch, die er anschließend in seinem Mund verschwinden ließ. Aber er war noch nicht am Ende.
»Und dann diese ständigen Querelen! Bloß dem Einen nix gönnen, nur den Anderen nicht auch mal unterstützen, wenn es darum geht, dass man als Gemeinschaft vielleicht wieder ein paar Weichen für die Zukunft richtiger stellen kann, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen war. Da sagt der Eine, das sei alles Scheiße, wie es der Andere mache. Der Andere wiederum spricht dem Einen die Kompetenz dafür ab, irgendetwas überhaupt sinnvoll zu machen. Und letztendlich stehen sowohl auf der einen als auf der anderen Seite sich immer ein paar Leute gegenüber, die sich persönlich einfach nicht riechen können!«
»Und als Ergebnis bleibt die Gemeinschaft auf der Strecke. Du hast schon Recht, und ich weiß, was du meinst«, pflichtete Hermann dem Hauptkommissar bei. Der wiederum schien sich nun langsam zu beruhigen.
***
Dieser Freitag stellte sich für Hauptkommissar Pytlik immer mehr als ein gebrauchter Tag heraus. Gegen Mittag hatte er beschlossen, Gundi Reif noch ein paar nette Worte mit ins Wochenende zu geben. Als er hinüber zu ihr gegangen war, angeklopft und die Tür geöffnet hatte, musste er jedoch feststellen, dass seine Sekretärin allem Anschein nach schon nach Hause gegangen war. Frustriert schüttelte er den Kopf und ging zurück an seinen Schreibtisch. Draußen hatte sich der Nebel mittlerweile verzogen und das erste Oktoberwochenende grüßte mit einem freundlichen Gesicht.
Nachdem Pytlik keine dringenden Dinge zu erledigen hatte und die abzuarbeitenen Stapel nicht nach sofortiger Erledigung brüllten, beschloss auch er, den Computer an diesem Tag etwas eher runterzufahren. Kurz nach 16 Uhr verabschiedete er sich von seinem Assistenten.
»Also dann, Cajo, ein schönes und hoffentlich ruhiges Wochenende! Grüß deine Bernadette von mir! Bis Montag!«
»Alles klar, Franz! Danke, werde ich machen!«
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Die Luft war klar, die Sonne färbte das am Boden liegende Herbstlaub in schöne Farben und Hauptkommissar Pytlik schmiedete ein paar mögliche Pläne für die nächsten beiden Tage. Ein Ausflug nach München zum Wandern mit seinem Bruder schien ihm zu kurzfristig. In seinem Garten war einiges zu tun und wenn das Wetter so bleiben sollte, überlegte er, dann wäre das eigentlich eine gute Gelegenheit, schon ein paar Vorbereitungen für die kalten Monate zu treffen. Ja, dachte er, das war eine gute Idee. Eventuell würde sich auch ein letztes Grillen anbieten; dafür würde er mit seinem Kumpel Heiner telefonieren. Er freute sich nun wirklich auf das Wochenende.
Und er begann es mit einer Einkehr im Backhaus, wo er sich zu einer Tasse Kaffee zwei Puddingbrezeln bestellte und sich dann an einem Stehtisch in unmittelbarer Nähe zu zwei Männern gesellte, die bereits in ein angeregtes Gespräch vertieft waren und die Pytlik beim ersten Hinsehen auf Mitte dreißig schätzte. Wochenende hin oder her: Er war eben ein Kriminalist!
Der eine der beiden Männer hatte einen unüberhörbaren Dialekt, den Pytlik nach kurzem Überlegen als Hessisch erkannte. Der Blick aus dem Fenster bestätigte den Kronacher Ermittler, da er einen roten Sportwagen mit Hanauer Kennzeichen sehen konnte, dessen Verdeck geöffnet war und die Sicht auf das luxuriös anmutende Innere der Karosse ermöglichte. Dass der Wagen auf dem Behindertenparkplatz stand, war natürlich nicht in Ordnung, und hätte sich Pytlik an diesem Tag nicht schon im Büro ärgern müssen, wäre er der Sache sicherlich nachgegangen. Er vereinbarte das kurz mit sich selbst und beschloss, den Macho mit den schwarzen gegelten Haaren touristenfreundlich gewähren zu lassen.
Mit der Puddingbrezel war es bei Pytlik genauso wie mit der Leberkässemmel. Ein immer wiederkehrendes, den Geschmackssinn betörendes Ritual, dem sich der Hauptkommissar regelmäßig hingab. Zunächst hatte er sich deswegen nicht auf die beiden Männer konzentriert, sondern den Verzehr der klebrig-süßen Teile genossen. Nach und nach wanderte sein Gehör allerdings zum Nebentisch, und sowohl Inhalt als auch Art und Weise des Dialogs erschienen Pytlik mehr und mehr suspekt. Da standen allem Anschein nach zwei Typen, die damals zusammen in Kronach aufs Gymnasium gegangen sind und sich heute nach sehr langer Zeit wieder einmal trafen. Der eine, der mit dem Sportwagen vor der Tür, der den teuren Pullover lässig um seine Schultern gebunden hatte, so dass man auf jeden Fall auf dem Hemd das Logo der Edelmarke sehen konnte, erzählte unablässig davon, wie erfolgreich, beliebt und unwiderstehlich er in den Jahren nach der Schulzeit geworden war. Sein Kompagnon wirkte gegen den etwas übergewichtigen Angeber – Typ südländischer Gockel – nicht nur bieder, seine schmächtige Figur und sein offensichtlich nicht sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein ließen ihn wie einen kleinen Laufburschen wirken. Dennoch schienen die Beiden während ihrer gemeinsamen schulischen Zeit dicke Freunde gewesen zu sein. Pytlik war nun ganz Ohr und hatte seine Antennen auf Empfang gestellt, ohne dass die Tischnachbarn dies bemerkten. Das Backhaus war wie immer gut besucht.
»Und das heißt also«, stellte der schüchtern Wirkende emsig eine weitere Frage und es machte den Eindruck, dass sie sich trotz ihrer damaligen Verbundenheit nun wohl schon länger etwas aus den Augen verloren hatten, »du bist jetzt in erster Linie von Beruf Sohn? Oder habe ich da etwas falsch verstanden?«
»Aber bitte, Flo!«
Die Ernsthaftigkeit und das Erstaunen waren übertrieben gespielt. Entspannt ließ der arrogant auftretende Typ den Löffel auf die Untertasse fallen, schürzte abwägend die Lippen, wippte dabei den Kopf einige Male hin und her und sagte dann mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht:
»Ich habe eigentlich feste Bürozeiten mit meinem Vater vereinbart. Ich habe natürlich auch viele Termine bei Kunden, so dass ich nicht immer im Büro sein muss, wenn du verstehst, was ich meine.«
Pytlik wusste sofort, was er meinte. Er war ein fauler Hund, der mit beiden Händen das Geld seines Vaters ausgab, der wiederum froh war, wenn sein nichtsnutziger Sohn ihm im Geschäft nicht die Arbeit kaputtmachte.
»Naja, wenn man morgen mal unsere Abiturkolleginnen und -kollegen befragen würde, was aus dir geworden ist, würden wohl die meisten genau darauf tippen, wie es für dich nun gekommen ist, Benny.«
Ach, wie niedlich! Pytlik musste innerlich leicht schmunzeln, nachdem er nun wusste, dass er es mit dem reichen Unternehmersöhnchen Benny zu tun hatte, das anscheinend nach Kronach gekommen war, weil hier ein Treffen seiner ehemaligen Abiklasse stattfand. Und dieser Flo – Pytlik vermutete, dass er in Wirklichkeit Florian hieß – schien wohl damals so eine Art Lakai des Angebers gewesen zu sein. Der Hauptkommissar hatte Zeit und machte sich den Spaß, noch ein bisschen zu lauschen.
»Ja, ja, die guten alten Kolleginnen und Kollegen aus dem Abitur«, simpelte der Kleine vor sich hin, der Pytlik an eine etwas ausgewachsenere Version des Michel aus Lönneberga erinnerte, ohne dass er mit ihm die gleichen Lausbubenstreiche in Verbindung bringen würde.
»Hast du eigentlich jemandem Bescheid gegeben, dass du kommen wirst? Ich meine, die werden dich nicht gerade mit offenen Armen empfangen, das ist dir doch wohl klar!«
Pytlik schlug eine Broschüre auf, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er wollte damit zeigen, dass er sich in keiner Weise für das interessierte, was die beiden Männer da besprachen. Tatsächlich strengte er sich aber jetzt umso mehr an, das Gespräch zu verfolgen.
»Na, du bist doch schuld! Ich war ja im E-Mail-Verteiler gar nicht mit drin, als es um die Terminfestlegung für das Abitreffen ging. Du hättest mir das einfach nicht weiterleiten sollen! Ist doch offensichtlich, dass die mich nicht dabeihaben wollen. Aber, du weißt ja, so was ist mir scheißegal! Ich habe mich noch nie nach den Anderen gerichtet. Ich habe immer mein Ding gemacht. Verstehst du, Flo!«
Das Lächeln des Blonden wirkte gequält, aber natürlich zustimmend. Pytlik dachte, dass das früher zwischen den Beiden wohl auch immer so gelaufen sein musste. Hier der große Zampano, der die Richtung vorgibt und alles