»Wenn ich dich jetzt mitnehme, gehe ich davon aus, dass du schweigen wirst«, stellte Chloe fest.
»Wohin soll ich mitgehen?«, fragte sie verunsichert.
»In meine Wohnung selbstverständlich«, lächelte Chloe. »Was hast du denn gedacht?«
»Keine Ahnung«, gestand sie. »Ich bin wohl eher davon ausgegangen, wir gehen in ein Café.«
»Ach, wozu denn«, meinte Chloe mit einer abwinkenden Geste. »Tee oder Kaffee kann ich selbst machen. Außerdem ist es viel ungezwungener, … man kann besser frei sprechen, ohne lästige Zuhörer.«
Tamora fühlte sich jetzt nicht mehr ganz wohl in ihrer Haut. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Doch sie hatte zugesagt und konnte nicht mehr zurück. Inzwischen hatte Chloe sie in den Hausflur gezogen und den Knopf am Fahrstuhl gedrückt.
»Im Haus hat keiner eine Ahnung, von dem was ich beruflich mache und das ist auch gut so. Hier lebt jeder für sich und kaum einer kennt den anderen. So etwas kann von Vor-, aber auch von Nachteil sein«, erklärte sie. »Und weil du es auf dem Türschild eh lesen kannst … Mein richtiger Name ist Violett.«
*
Wie sich herausstellte, hatte Violett ihre Wohnung in der vierten Etage – Räumlichkeiten, die es in sich hatten.
Die junge Prostituierte hatte ihr den Vortritt gelassen, war hinter ihr im Türrahmen stehen geblieben und musterte sie eindringlich. »Ja, das hast du wohl nicht erwartet, wie?«, schmunzelte sie.
Tamora drehte sich einmal langsam um ihre Achse und besah sich alles sehr genau. »Nachdem ich schon den Sportwagen bewundern durfte, habe ich mit einigem gerechnet … Ich muss gestehen, Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack«, bemerkte sie lächelnd. »Farblich alles Ton in Ton und dazu diese wundervollen weißen Möbel. Es ist alles so hell. Besonders der farbenfrohe Klecks mit der Sitzgarnitur ist ein fabelhafter Akzent … Gefällt mir, … sehr schön, wirklich!«
»Davon habe ich immer geträumt«, erklärte Violett nicht ohne einen gewissen Stolz.
»Aber das will auch jeden Tag geputzt werden«, warf Tamora ein.
»Hast du keine Reinigungskraft?«, erwiderte sie mit einem verschmitzten Zug um den Lippen.
»Kann ich mir nicht leisten«, gestand Tamora, die, noch immer zögernd, inmitten des Salons stand.
»Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Hier gibt es keinen Zuhälter oder dergleichen, der zuschlägt und dich rauswirft. Falls du davor Angst haben solltest.«
»Nein«, erwiderte sie hastig, auch wenn ihr dergleichen gerade durch den Kopf gegangen war.
Violett schien sich köstlich zu amüsieren. »Wenn mir das mal einer gesagt hätte, dass ich freiwillig eine anständige Frau einlade, also ehrlich, den hätte ich schallend ausgelacht.«
Violetts Lachen wirkte ansteckend und sorgte auf angenehme Weise dafür, dass Tamoras Anspannung nachließ. Diese Prostituierte ist schon eine komische Nudel, dachte sie. In einem Augenblick macht sie auf vornehm und im nächsten hat sie ein loses Mundwerk.
Violett war aus ihren hochhackigen Pumps geschlüpft und hatte sie lässig mit den Zehen in eine Ecke des Raumes befördert. Dann hatte sie sich in einen, der zum rotem ›Big Sofa‹ gehörenden Sessel gesetzt, die Beine angezogen und es sich bequem gemacht.
Wieder einmal betrachtete Tamora Violett eingehend, wie sie sich da so vor ihr räkelte. Sie ist ein bezauberndes Wesen. Alles an ihr ist perfekt. So wie sie, will wohl jede von uns sein, ging es ihr durch den Kopf. Sie ist eine wahrhaft außergewöhnlich schöne Frau. Sie wollte schon eine erste Frage loswerden, die ihr fertig auf der Zunge lag, als sie diese wieder herunterschluckte. Vermutlich wird sie es hassen, wenn ich sie danach frage, wie alles angefangen hat, dachte sie. Ich möchte ja schließlich auch nicht laufend gefragt werden, wie ich das mit dem Romane schreiben mache oder woher ich die Inspiration hernehme und ob ich einmal genau das erleben möchte, was meine weiblichen Figuren in den Geschichten an Sex ausleben.
»Ich werde uns beiden jetzt einen Tee machen … oder möchtest du etwas anderes?« Violett hatte sich erhoben und sah sie lächelnd an.
»Tee wäre nicht schlecht. Kaffee habe ich eben schon bei May bekommen.«
Mit den gleitenden Bewegungen einer Katze verschwand Violett in einem angrenzenden Raum, von dem Tamora vermutete, dass sich dort die Küche befand. Es ist einfach eine Freude, ihr zuzusehen, dachte sie. Sie weiß genau um ihre Reize. Es besteht kein Zweifel, dass sie Männer wie ein Magnet förmlich nur so anzieht. »Darf ich mir alles ansehen?«, erkundigte sich Tamora bei ihrer Gastgeberin.
»Ja, mach du mal«, kam es fröhlich aus dem Nebenzimmer zurück.
Der ungewöhnlich große Flachbildschirm fiel Tamora sofort ins Auge und auch der wundervolle Sekretär im ›Vintage-Look‹. Was sie aber weitaus mehr faszinierte, war das wertvolle Porzellan in einer Anrichte im Landhausstil. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sicher, ich habe auch schon über recht erfolgreiche Huren geschrieben, doch kennengelernt habe ich noch keine. Dann entdeckte sie Bücher und ihre Augen flogen über die Rücken. Neben Lyrik von Elizabeth Browning, Gerard Hopkins, Christina Rossetti und Alfred Tennyson, standen Dramen von Henry Jones, Arthur Pinero und Oscar Wilde. Es folgte Epik von Thomas Hardy, den Bronte-Schwestern, Charles Dickens, Elizabeth Gaskell und William Thakeray. Eine komplette Shakespeare-Ausgabe fand sich neben Bänden von Tolstois ›Anna Karenina› und ›Krieg und Frieden‹. Es war eine Auswahl, wie sie Tamora bei einer Frau wie Violett niemals erwartet hätte. Behutsam hatte sie eine Erstausgabe von Edgar Allan Poes ›Aventures d’Arthur Gordon Pym‹ in französischer Übersetzung von Charles Baudelaire in die Hand genommen und blätterte in Gedanken versunken darin.
»Ja, man mag es kaum glauben, aber ich kann sogar lesen und habe es auch getan«, bemerkte Violett fast trotzig. Ohne dass es Tamora bemerkt hatte, war sie in den Salon zurückgekehrt, »sogar auf Französisch.« Sie kam auf Tamora zu und nahm ihr das Buch aus den Händen. »Ah, der Albatros. Das mag ich ganz besonders … Souvent, pour s'amuser, les homme d'equipage prennent des albatros, vastes oiseaux des mers, qui suivent, indolents compagnons de voyage, le navire glissant sur les goufres amers.« Sie klappte das Buch zu und stellte es zurück. »Oft zum Zeitvertreib fangen die Seeleute sich Albatrosse ein, jene mächtigen Meervögel, die als lässige Reisegefährten dem Schiffe folgen, wie es auf bitteren Abgründen seine Bahn zieht.«
»Du musst mir nichts beweisen«, meinte Tamora betreten. »Ich habe das nie behauptet. Ich staune halt nur über die ungewöhnliche Zusammenstellung.«
»Und dennoch hast du mir das alles nicht zugetraut, weil ich aus ganz einfachem Hause komme! … Ist doch so, oder?«
»Es ist eben sehr ungewöhnlich«, gestand Tamora und nickte. »In einem Roman würden es meine Leser als überzogen betrachten … völlig an ihrer vermeintlichen Realität vorbei.«
»Ich bin dir nicht böse«, erwiderte Violett. »Auf den überwiegenden Teil von uns, trifft es ja auch zu … Aber so wie die, wollte ich nie sein.« In ihren Augen funkelte es. »Wenn meine alten Herrschaften das alles jetzt sehen könnten, sie würden es nicht für möglich halten. Ich habe es geschafft, … bin ganz oben. Alles ist bar bezahlt, auch die Wohnung, der Sportwagen … und Bildung habe ich mir auch beigebracht. Du glaubst gar nicht, wie oft ich dadurch lukrative Aufträge bekomme … Escort-Service für hohe Tiere, wenn sie in London verweilen.«
»Ihre Eltern sind tot?«, erkundigte sich Tamora zögernd.
»Wir sollten nicht so förmlich sein, meinst du nicht auch? Das machen sogar die Beamten von der ›Metro Police‹«, schlug Violett vor, ohne die Frage zu beantworten.
»Gern. Ich wollte nur nicht unhöflich sein«, entschuldigte sich Tamora.
»Du bist schon recht eigenartig«, schmunzelte die junge Prostituierte. Dann