Etru starrte sie fassungslos an. Sein Gesicht verlor jede Farbe.
„Ein bleicher Stein”, dachte Dindra. Sie hatte sich von der Bank in der Halle erhoben, wo sie mit klopfendem Herzen darauf gewartet hatte, dass ihr Vater ins Haus kam. Auf ihrem Nacken, der sich seltsam schutzlos und leicht anfühlte, spürte sie die warme Luft des Raumes. Die rauen Spitzen ihrer abgeschnittenen Haare kitzelten sie an den Ohrläppchen und auf den Wangen. Und sie fielen ihr in die Stirn, aber sie wagte nicht, sie zurückzustreichen, damit sie langsam wieder nach vorn fielen wie Gras, das der Wind flachgedrückt hatte.
„Es ist Vorschrift für Drachenreiter”, sagte sie.
Etrus Hände begannen zu zittern. Die Bewegung setzte sich in seinem ganzen Körper fort, bis es aussah, als ob er von einer unbezähmbaren Wut geschüttelt wurde. Er ging an ihr vorbei zum Kamin und nahm den Stock von seinem Platz an der Wand.
„Das ist sie also”, dachte Dindra. Die Grenze, die sie überschritten hatte. Sie war nicht überrascht. Es kam ihr vor, als hätte der Stock all die Jahre nur für diesen einen Augenblick da gehangen. Sie senkte den Kopf, als Etru auf sie zutrat.
„In Ordnung”, sagte sie leise und wartete auf die Schläge, obwohl es ihr nicht gelingen wollte, sie sich vorzustellen. „Ich werde ihn trotzdem lieben”, sagte sie sich. Aber sie hatte Angst, dass sich etwas ändern würde, etwas, das sich nicht mehr rückgängig machen ließ.
Sie wartete und sah nur die Holzbohlen des Fußbodens, auf dem Etrus Stiefel standen, so unverrückbar wie zwei Felsen. Dann hörte sie ein Knacken. Zwei Bruchstücke fielen zwischen Etrus Stiefel, braun verdunkelt vom Ruß. Nur die Stellen, an denen sie zersplittert waren, leuchteten in einem fahlen Weiß. Dindra starrte sie verständnislos an. Ein seltsames Geräusch, ein ersticktes, unterdrücktes Würgen, ließ sie aufschauen. Etru hatte die Hände vor dem Gesicht, und seine Schultern zuckten.
„Ein Stein kann nicht weinen”, dachte sie verwirrt.
„Vater!” Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.
„Ich wusste immer, dass ich es nicht tun könnte”, stammelte Etru. „Niemals.”
Er löste sich von ihr, ließ sich schwerfällig auf die Bank fallen und wischte sich mit den Händen übers Gesicht. Dann schaute er sie an. Sie hatte ihn noch nie so gesehen. Sein Blick war scheu, und alle Härte war aus seinen Zügen gewichen. Dindra erschrak. Unter dem Stein war das Gesicht eines jungen Mannes hervorgekommen, unsicher, verletzt und traurig.
„Du siehst aus wie sie”, sagte er. „Damals, als sie kam.” Er lächelte schwach. „Ich weiß, du wirst gehen. Ich habe es gesehen, an jedem Tag seit dieser verfluchte Drachenreiter hier war. Ich habe es in deinen Augen gesehen, als er von den Drachen sprach, und ich habe es wiedererkannt. Ich habe es schon einmal gesehen.”
„Wo?”, fragte Dindra. Ihr Herz klopfte so heftig, dass es ihre Stimme zittrig machte.
Etru seufzte. „Deine Mutter.” Er sank in sich zusammen und sah plötzlich unendlich müde aus. Dindra setzte sich vor ihn auf den Boden.
„Meine Mutter?” Sie wagte kaum zu fragen. Sie hatte so lange darauf gewartet, dass er von ihr sprechen würde.
Etru sah sie lange an, während sie den Atem anhielt und ihren Vater am liebsten geschüttelt hätte, damit er endlich anfing zu sprechen.
„Kirin war Drachenreiterin”, sagte er. „Sie kam von Goldfels. Ich habe mich gleich in sie verliebt, als ich sie sah.”
„Kirin”, sagte Dindra. „Ich kannte nicht mal ihren Namen.” Sie fing an zu weinen. Sie konnte nicht anders. So viele Geschichten, aber die eine, die sie am liebsten gehört hätte, hatte er nie erzählt.
„Erzähl mir von ihr!”, befahl sie unter Tränen. Die Worte steckten ihr im Hals fest und wollten sie fast ersticken. Sie wusste nicht, ob sie wütend oder dankbar sein sollte.
Etru nickte bedächtig. „Es war in der Zeit der heißen Sonne, die damals noch heißer brannte als sonst. Die Höfe bekamen nicht genug Regen und die Hofbesitzer hatten in Goldfels um Hilfe gebeten. Ich hatte damals große Angst um meinen Hof.” Dindra wusste, dass Etrus Eltern früh gestoben waren. Er hatte den Hof übernommen, als er noch sehr jung war.
„Eine Drachenreiterin kam und erklärte uns, dass die Zahl der Drachen gering war in jenen Tagen. Wenn die Drachen alt und schwach werden, werden sie in die Berge entlassen, sagte sie. Ich nehme an, sie wollen dort sterben und nicht in der Station. Sie sagte, Drachenfänger seien ausgeschickt, um junge Drachen zu fangen, und man würde tun, was man könne. Bis dahin müssten die Gewitter so gut es ging auf der Ebene verteilt werden.
Wir waren unzufrieden. Ich habe aufbegehrt, weil ich den Eindruck hatte, dass man uns im Stich ließ, und habe die Versammlung wütend verlassen. Die Drachenreiterin ist mir zu meinem Hof gefolgt und hat mit mir geredet, mir versichert, dass sich alles bald zum Besseren wenden würde. Sie war verständnisvoll, als ich ihr meine Lage erklärte. Ich habe zum ersten Mal gemerkt, wie schön es ist, jemanden zu haben, mit dem man über alles reden kann.
Sie hat mich nach den Schnitzereien gefragt. Ich hatte damals damit angefangen, weil ich Spaß daran fand und merkte, wie geschickt ich darin war. Ich erzählte ihr Geschichten zu den Gesichtern, so wie dir. Sie saß da und hat mir zugehört, so aufmerksam, und sie hat mich angeschaut, als ob sie am liebsten bleiben wollte.” Er lachte kurz auf. „Vielleicht hat sie sich in meine Einsamkeit verliebt, ich weiß es nicht.
Nach ein paar Wochen kam sie zurück und erzählte uns, dass es inzwischen genug neue Drachen gebe, und wir wieder mit mehr Regen rechnen könnten. Ich hab sie gefragt, ob sie bei mir bleiben wolle, und sie hat eingewilligt. Ein paar Tage später kam sie wieder, ohne Drachen. Sie hat die Kleidung der Ebene angelegt, und wir haben geheiratet. Es war nicht genug Zeit, dass ihre Haare lang wachsen konnten, so wie deine. Wir waren glücklich miteinander, in der wenigen Zeit, die uns verblieb, aber ich hatte immer den Eindruck, als ob sie die Drachen vermisste, und als ob ihr Herz gebrochen wäre, auch wenn sie das nie zugegeben hätte. Aber als sie bei deiner Geburt starb, glaubte ich, dass es auch daran lag.”
Etru weinte, und Dindra legte dem Kopf auf seine Knie und streichelte seine Hände.
„Sie muss dich sehr geliebt haben, wenn sie bei dir geblieben ist, obwohl sie die Drachen vermisste. Wie sah sie aus?”
Etru stand auf und ging zu der Truhe, die unter einem der Fenster stand. Er kramte eine Weile darin herum, dann holte er eine rechteckige Holzplatte hervor.
„Ich konnte es nicht mehr ansehen, nachdem sie gestorben war, deshalb habe ich es aus dem Balken herausgeschnitten.” Er gab Dindra die dünne Holzplatte.
Sie erschrak, als sie das geschnitzte Gesicht darauf anschaute. Es glich ihrem eigenen so sehr, als wäre es ein Porträt von ihr.
„Vielleicht hätte ich sie nicht heiraten sollen”, sagte Etru. „Es kam mir immer vor, als müsste ich ihre Liebe mit den Drachen teilen. Sie erzählte mir oft von ihnen. Wie glücklich es sie gemacht hatte, auf einem Drachen zu reiten. Ich machte ihr sogar Vorwürfe.” Sein Gesicht verzog sich schmerzhaft bei der Erinnerung. „Sie versicherte mir, dass sie ihre Entscheidung nicht bedauere, und es gab Momente, in denen ich ihr glaubte und es mir vorkam, als sei sie vor irgend etwas geflohen und froh, es hinter sich gelassen zu haben. Aber sie hat oft nach den Drachen gesehen, wenn sie am Himmel vorüberzogen. Ich habe ihren Blick gesehen, und es hat mir das Herz zerrissen. Als sie starb, konnte ich es kaum ertragen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich nicht mehr leben wollen. Ich war außer mir und ich war wütend auf die Drachen. Ihretwegen hatte sie mir niemals ganz gehört. Der Groll, den ich empfand, hat mich hart gemacht, ich weiß.” Er öffnete seine Hand und zeigte Dindra ein Amulett, das er ebenfalls aus der Truhe genommen hatte. Es war ein kleiner silberner Reif, der eine Drachengestalt umfasste. Kopf, Beine, Flügel und Schwanz waren mit dem Reif verbunden.
„Es hat Kirin gehört, und du sollst es jetzt tragen.” Er legte Dindra die Kette, an der das Amulett hing, um den Hals.
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