Hülya mochte Hoofeller gern, obwohl sie bei ihm in Deutsch auf einer Vier stand und in Englisch sogar im Begriff war, auf eine Fünf abzurutschen. Aber Hülya lag nichts an Englisch, sie liebte das Arabische. Einmal hatte sie das zu Hoofeller gesagt. Der wurde nachdenklich und sagte dann: »Vielleicht sollte ich auch Arabisch lernen?«
Als sie ihm vor einigen Stunden in der Stadt über den Weg lief, war sie erst mal ganz schön schockiert. Am liebsten wäre sie gleich weitergegangen. Doch er hatte sie festgehalten und »Warte« gesagt.
Dann hatte er sich vor ihr telefonisch krankgemeldet, also gelogen. Das war schon ein Ding. Ein Lehrer macht es wie die Schüler: Schwänzt die Schule. Und gleich fand sie diesen Typ noch sympathischer.
Was wollte er von ihr, sie als Alibi benutzen? Er hätte doch einfach weitergehen können. Genau so, wie sie es vorhatte. Aber vielleicht war es ihm peinlich. Und er wollte sie dazu überreden, ihn nicht anzuschwärzen? Hatte er aber dann doch nicht gemacht.
Sie könnte also einfach morgen rumerzählen, dass sie Hoofeller beim Schwänzen erwischt hätte. Aber irgendwie tat er ihr leid. Was hätte sie davon, ihn zu verpetzen? Schadenfreude? Am Ende bekam er noch Ärger – wegen ihr. Das wollte sie nicht.
Und wie peinlich es ihm war, als die Leute her guckten! Sie verstand nicht, wie das einem Lehrer peinlich sein kann. Der sich doch traut, seinen Kram vor einer ganzen Klasse auszubreiten. Auch war er offenbar ab und zu mal nicht ganz bei sich. So zerstreut. Typisch Lehrer.
Und einen Grund für sein Schwänzen wusste er auch nicht. »Alter vor Schönheit«, wollte sie eigentlich sagen, als er sich mit »Ladies first« erst mal um eine Erklärung gedrückt hatte. Aber später hatte er auch nichts Richtiges dazu zu sagen.
Da waren ihre Argumente auf jeden Fall besser. Auch wenn sie ihm offenbar nicht gefielen. Doch Hülya hatte keine Lust, jetzt darüber nachzudenken. Dazu war noch ein ganzes Jahr Zeit.
04
Sein Handy blieb abgeschaltet. Und falls das Festnetztelefon klingelte, würde er nicht drangehen. Sollte das doch sein Anrufbeantworter erledigen.
Nun saß Erich schon einige Zeit in seinem Arbeitszimmer. Grübelte über sein Fernbleiben von der Schule nach, ohne einen Grund dafür zu finden.
Tags zuvor hatte er noch unterrichtet – wie immer. Hatte dann allerdings nur noch physisch an der Konferenz teilgenommen. Lag da bereits der Keim für sein heutiges Schwänzen, wie Hülya es nannte?
Er schüttelte den Kopf. Wie oft war er schon abends nach Hause gekommen und hatte sich ausgebrannt gefühlt. Und war dann doch am nächsten Tag wieder zur Schule gegangen. Nicht nur, weil das sein Job war, für den er bezahlt wurde. Sondern auch weil es ein Teil seines Lebens war, ein für ihn vorwiegend angenehmer Teil.
Denn mit den Schülern kam er meistens gut zurecht. Dafür war es bei ihm nicht so leise wie bei manchen Kollegen. Dafür durften die Schüler während des Unterrichts auch mal »Fachfremdes« tun. Erich hatte nie den Ehrgeiz gehabt, alle Schüler für seinen Unterricht zu motivieren – wie das genannt wurde.
Schließlich waren die Schüler die Kunden, er war nur Dienstleister. Wollten die Schüler Wissen vermittelt haben, stand er zur Verfügung, ihnen Bestmögliches zu bieten. So trugen die Schüler eine Mitverantwortung am Unterricht. Wer nicht wollte, hatte sich nur so zu verhalten, dass andere nicht beim Arbeiten und Lernen gestört wurden.
Das klappte natürlich nicht immer. Denn schon ein Störenfried konnte die ganze »Suppe versalzen«, wie er es nannte. Meist jedoch fand Erich einen Weg, sich auch mit dem Lernunwilligsten zu arrangieren. Dazu gehörten auch eine »dicke Haut« und mehr als ein Quäntchen Sturheit.
Letztlich gab es keinen Grund für ihn, plötzlich zu schwänzen. (Langsam fand er Gefallen an dem Ausdruck.)
»Na ja«, sagte er laut zu sich, »jeder braucht mal eine Auszeit.«
So außergewöhnlich war das nicht. Wer wusste schon, wie viele Leute ihrer Arbeitsstelle fernblieben, einfach weil sie keine Lust zum Arbeiten hatten? Vielleicht hatte das sogar dazu geführt, dass sie schließlich ihre Arbeit wieder mit mehr Elan aufnehmen konnten?
»Rein statistisch gesehen«, sagte Erich wieder laut, »müsste ich mit meinen 60 Jahren viel öfter fehlen.«
Einen Grund hätte er nun: Die Statistik. Nach einem Artikel, den er kürzlich gelesen hatte, war angeblich der Krankenstand bei Lehrerinnen und Lehrern fast dreimal so hoch wie bei anderen Berufen. Außerdem hieß es dort, dass nur 5 Prozent bis zum Pensionsalter durchhielten.
»Rein statistisch gesehen«, ergänzte Erich, »bin ich also einer von 20, die noch dabei sind.«
So beschloss er, es keineswegs zu bereuen, dass er heute nicht zum Unterricht erschienen war. Und er war sicher, dass er in wenigen Tagen wieder unterrichten würde.
Morgen allerdings sollte er noch nicht gleich wieder zur Schule gehen. »Wenn ich mir von meinem Hausarzt ein Attest für mehrere Tage ausstellen lasse, fällt es auch nicht weiter auf.«
Da kam ihm Hülya in den Sinn. Die hatte es doch längst weitererzählt. Sein Schwänzen würde in den nächsten Tagen die Runde machen. Wie sollte er es da als echtes Kranksein kaschieren? Wenn alle wüssten, dass er mit Hülya während des Unterrichts in der Stadt in einem Café gesessen hatte?
So würde er noch während seiner Abwesenheit zum Gespött der ganzen Schule. Und wenn er zurückkäme, würden alle auf ihn schauen und hinter seinem Rücken über ihn tuscheln.
Bisher hatte Hoofeller sich nie etwas zuschulden kommen lassen, war auf jeden Fall immer das, was man als »guten Beamten« bezeichnete. (Ohne dass er wusste, was genau das war.)
Und jetzt das. Wie das aussah: Alter Knacker trifft sich mit einer Schülerin aus seiner Klasse, und beide schwänzen. Er malte sich schon aus, welche Kollegen besonders viel Schadenfreude empfinden würden.
Auffällig genug war Hülya schon immer, seit er sie kannte. Mit der eigenwillig bunten Kleidung, die sie trug. Und auch ihre Stimme war unüberhörbar. Und wenn sie dann noch lauter wurde als normal, dann ersetzte sie jedes Alarmsignal.
Erich war das peinlich gewesen, so die Aufmerksamkeit anderer zu erregen. Ein Auftreten wie das von Hülya hätte er sich in seiner Jugend und bis heute niemals getraut. Er war immer möglichst unauffällig gekleidet, eher in Richtung Grau oder Beige. Und er pflegte leise und deutlich zu sprechen. Nur wenn es im Unterricht zu laut wurde, konnte auch er mal lauter werden.
Wie auch immer. Jetzt jedenfalls würde er sich ein Glas Rotwein genehmigen. Vielleicht ausnahmsweise auch mal ein zweites. Und dazu ein Buch lesen. Es war schon eine ganze Weile her, da hatte er mit »Hundert Jahre Einsamkeit« von Garcia Marquez in Spanisch begonnen. Jetzt war Zeit genug, diese Lesung fortzusetzen.
Er fragte sich, ob er gern 100 Jahre alt werden würde. Dann hätte er noch 40 zu leben. Keine schlechten Aussichten. In 5 Jahren wäre er fertig mit der Schule. (So drückten sich eigentlich die Schüler aus, wenn sie ihren Schulabschluss meinten.)
Dann könnte er noch 35 Jahre lang seine Pension genießen. Aber würde ihn das wirklich ausfüllen? Tagelang immerzu irgendwo in einem Café sitzen und langsam älter werden? Würde ihm nicht der ganze Schulbetrieb fehlen?
Oder war der heutige Tag ein Auftakt für eine radikale Änderung? Hatte heute bereits sein neues Leben als Pensionär begonnen? Denn er hatte ja beschlossen, auf jeden Fall morgen auch noch zu fehlen. Und was war mit Übermorgen?
Da war Freitag. Es wäre also günstig, wenn sein Hausarzt ihn einfach bis zum Ende der Woche krankschreiben würde. Und am Sonntagabend könnte er sich dann entscheiden, wie es weiterginge.
Erich erschrak. Wieso machte er sich darüber Gedanken? Ursprünglich war es doch klar, dass er baldmöglichst wieder in die Schule zurückkehren würde. Womit alles wieder beim Alten wäre. Wieso