Hans-Georg Schumann
Als Erich H. die Schule schwänzte
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Inhaltsverzeichnis
Mittwoch
01
Gestern war er besonders müde nach Hause gekommen. Den ganzen Tag Schule, erst von acht bis vier Uhr Unterricht, dann eine Stunde später Konferenz, bis acht Uhr abends.
Es war halb neun vorbei, als er schließlich erschöpft vor dem Fernseher saß und die Nachrichten in einem Privatsender schaute, weil die im Ersten schon vorbei waren. »Dienstag passt«, meinte er lächelnd zu sich, »Dienst-Tag.«
Dann schwieg er und ließ das komplette Programm an sich vorbeilaufen. Das meiste davon, ohne es wahrzunehmen, denn noch weit vor zehn Uhr war er eingeschlafen. Irgendwann wachte er noch einmal auf, um sich auszuziehen und den Weg ins Bett zu finden. Dort fiel er sofort in den Schlaf zurück, den er vor dem Fernsehgerät verlassen hatte.
02
Als Erich Hoofeller am nächsten Morgen wie gewohnt aufstand, fühlte er sich ausgeschlafen und frisch. Während der Fahrt im Auto dachte er wie üblich noch einmal kurz über die Unterrichtsstunden nach, die demnächst auf ihn zukamen.
Erst als er an einer Ampel stoppen musste, weil die gerade auf Rot sprang, fiel ihm auf, dass er an seiner Schule vorbeigefahren war.
Gelassen wartete er, bis es Grün wurde. Dann fuhr er an, aber nicht, um bei nächster Gelegenheit zu wenden. Erst als er an einem Parkhaus mitten in der Innenstadt angekommen war, hielt er wieder an. Er zog eine Karte, stellte seinen Wagen ab und schlenderte gemächlich zum Ausgang.
Dort hielt er inne und schaute auf seine Armbanduhr. »In 10 Minuten«, sagte er vor sich hin, »beginnt dein Unterricht.«
Tatsächlich hatte er von sich erwartet, dass er nun schnurstracks umkehren, zum Auto eilen und schnellstens zur Schule fahren würde. Nichts davon geschah. Stattdessen erlebte er, wie er sich langsam mehr und mehr vom Parkhaus entfernte.
Als er in der Fußgängerzone angelangt war, blieb Erich erneut stehen. Jedoch nicht, um auf seine Uhr zu schauen. Oder an die Schule zu denken. Sondern um die nächsten Schritte zu genießen. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen? Hatte ständig zu Hause gesessen. Über Unterrichtsvorbereitungen gebrütet, Bücher in Deutsch oder anderen Sprachen gelesen, oder im Fernsehen Filme fremdsprachiger Sender geschaut.
Einen längeren Weg fand Erich nur, wenn er etwas zum Nachdenken hatte. Dann benötigte er Bewegung, brauchte den Rhythmus seiner Schritte. Er ging durch sein Wohnviertel, wanderte am Ufer des Sees entlang, der der Stadt einen Teil ihres Namens gegeben hatte. Tauchte in ein nahegelegenes Wäldchen ein, genoss seine von Lichtstrahlen unregelmäßig gemusterten Schatten. Ehe er dann in seinem eigenen Inneren verschwand.
Begegnete ihm jemand, bemerkte Erich es meistens nicht. Oder zu spät, wenn der oder die andere bereits grüßend an ihm vorbeigegangen war. Dann drehte er sich um, rief noch ein kurzes halbherziges »Hallo« hinterher, und setzte seinen Weg fort. Schritt für Schritt, und in diesem Takt dachte er auch.
Oft führte er Selbstgespräche. Redete mit sich in einer oder sogar in zwei Sprachen. Fragte auf Englisch und antwortete auf Deutsch. Oder er plauderte abwechselnd in spanischer und in französischer Sprache.
In seinem Lehrerstudium hatte er zunächst die Fächer Deutsch und Englisch gewählt. Weil ihm aber der Umgang mit Sprachen leichtfiel, lernte er später zusätzlich Spanisch und schließlich auch noch Französisch. So kam es, dass er neben Deutsch gleich drei Fremdsprachen unterrichtete.
Immer mal wieder hatte er daran gedacht, nach einer neuen Sprache Ausschau zu halten. Dabei orientierte er sich vor allem daran, ob sie seinen Kriterien einer Weltsprache genügte.
Italienisch kam für Erich nicht infrage, Portugiesisch ebenfalls nicht. Sie waren ihm nicht international genug, waren nicht weit genug verbreitet. Aber auch an Chinesisch hatte Erich kein Interesse. Obwohl es die angeblich meistgesprochene Sprache der Welt war.
Dabei störte es ihn nicht, wenn eine Sprache eine ihm zunächst völlig fremde Schrift benutzte. So hatte er als nächstes vor, Arabisch zu lernen. Das wäre nach seinen Kriterien eine weitere Weltsprache.
Abrupt wurde Erich aus seinen Gedanken gerissen. Er hatte die ersten Schritte in die Menge der Fußgänger gemacht, ohne sich darauf zu konzentrieren, wohin genau er ging. In Gedanken versunken war er losgestapft und prompt mit einem anderen Passanten zusammengeprallt.
»Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten!«, musste Erich sich anhören. Das grimmige Gesicht, in das er blickte, brachte ihn wieder dahin, wo er gerade war. »Entschuldigung«, murmelte er, erntete aber nur Kopfschütteln.
Es war sinnvoll, sich jetzt voll auf die aktuelle Lage zu konzentrieren. Nachdenken oder träumen konnte er später immer noch, wenn er erst einmal in dem Café da drüben saß, das er gerade eben erspäht hatte. Er kannte es von früher. Aber das war lange her, seit er das letzte Mal dort einen Cappuccino getrunken hatte.
Ehe er das Café erreichte, hatte Erich einen zweiten Zusammenstoß. Mit einem Mädchen. »Pass doch auf, Alter!« Die Stimme kam ihm bekannt vor. Tatsächlich, es war Hülya. Eine Schülerin aus der neunten Klasse, in der er Deutsch und Englisch unterrichtete. Als sie ihn erkannte, vertrieb sofort der Schrecken die Empörung aus ihrem Gesicht.
»Herr Hoofeller! Sie müssten ...«, begann sie, während sein Satz ganz ähnlich anfing: »Hülya, du müsstest ...«. Und beide vollendeten fast gleichzeitig: »... doch in der Schule sein.«
Als Erich sah, dass Hülya im Begriff war, weiterzugehen, hielt er sie kurz am Arm fest: »Warte einen Moment, bitte«.
Erst jetzt wurde ihm plötzlich seine Lage bewusst. Er schaute auf seine Uhr. Seit fast einer halben Stunde hätten die Schüler der neunten Klasse bei ihm Englisch. »Hello, how are you?«, begrüßte er sie jedes Mal zum Anfang einer Stunde. »We are allright«, pflegten dann alle fast wie aus einem Mund zu antworten.
Ganz zu Anfang hatten einzelne Schüler fortsetzen wollen: »And how are you?«, aber er hatte