Der kleine, graue Mann setzte sich hin und schob die Zuckerdose in Richtung des Kronanwaltes. »Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach sagen?«, fragte er. »Ich kannte den Mann nicht, also fühle ich ehrlich gesagt auch keinen Verlust oder Kummer. Ein gewaltsamer Tod ist schließlich auch nur ein Tod, und der kommt früher oder später auf jeden von uns zu. Ich sehe also keinen Grund, erstaunt zu sein, genauso wenig wie ich es tue, wenn ich am Ende eines Satzes angekommen bin.«
Pontypool gab mit einem kleinen Silberlöffel etwas Zucker in seinen Kaffee und probierte ihn vorsichtig. Er kannte seinen Gastgeber nicht besonders gut. Was er über ihn wusste, hatte er aus dem ›Who is Who‹ der ›Encyclopedia Britannica‹:
FINCH, CHARLES , Dr. med., geb. 1824 in Cardiff (Wales). Mitglied der ›Royal Medical and Chirurgical Society of London‹; Gutachter bei vielen berühmten Mordprozessen. Verfasser von: ›Die Geheimgänge der Seele. Der Mensch im Kampf zwischen Tod und Leben‹, ›Der schlafende Vulkan. Studie über die Angst‹, ›Psychiatrie und Verbrecher‹; zahlreiche Beiträge in medizinischen Fachjournalen.
Dr. Finch war ein unauffälliger, kleiner Mann. Er war weder groß noch klein, noch fett oder dünn. Er war weder hässlich noch derart attraktiv, um sofort wahrgenommen zu werden. Er hatte etwas an sich, was man wohl als zeitlose Qualität bezeichnen konnte – eine eigentümliche, eine anonyme Qualität. Sogar seine Stimme war irgendwie flach und klanglos.
»Ich möchte gar nicht lange drumherum reden, Doktor. Tatsache ist, dass ich in der Klemme sitze«, kam Pontypool auf den Punkt. »Sie sind Psychiater oder etwas in der Art. Ich …«
»Jedenfalls so etwas«, unterbrach ihn Finch mit einem gutmütigen Lächeln.
»Können Sie mir sagen, ob ein Mann einen Gedächtnisverlust vortäuscht oder nicht, Doktor?«
»Nur, wenn er schlauer ist als alle, die ich je gesehen habe.«
»Würden Sie bitte nach dem Frühstück mit mir zum Haus des Abgeordneten kommen? Die einzige Person mit einem glasklaren Motiv, Cameron Whiteman zu töten, leidet offenbar unter Gedächtnisverlust.«
»Das ist ein interessanter Satz, Mr. Pontypool«, bemerkte Finch.
Pontypool zog seine buschigen Augenbrauen leicht zusammen und warf ihm einen irritierten Blick zu. »Wie meinen Sie das, Doktor?«
»Ich meine: ein glasklares Motiv«, antwortete dieser und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ich bin der Meinung, dass das wahre Motiv hinter jedem Gewaltverbrechen zunächst sehr unklar sein muss.«
Pontypool lachte erneut. »Ihr Psychiater glaubt alle, dass alles menschliche Verhalten durch frühkindliche Erfahrungen bedingt ist, nicht wahr?«
»Die meisten Menschen werden in den ersten sechs bis acht Jahren ihres Lebens geprägt«, philosophierte Finch, »und danach leben sie das Muster dieser Jahre weiter, bis sie sterben. Deshalb bewegt sich die Geschichte so langsam, Mr. Pontypool.« Er hob seine Kaffeetasse an, nahm einen weiteren Schluck und stellte sie zurück. »Aber ich entspreche Ihrer Bitte und werde mir Ihren Amnesiefall ansehen.«
***
3
Der Leichnam von Cameron Whiteman lag auf dem Tisch des Bestattungsinstituts. Mit dem von seinem Gesicht heruntergezogenen Laken, erweckte er den Eindruck eines in eine weiße Toga gekleideten altrömischen Senators.
Pontypool und Dr. Charles Finch sahen sich den Toten an. Auf dem Weg zum Anwesen der Whitemans hatten sie beim Bestatter einen kurzen Halt eingelegt.
»Sieben tiefe Wunden«, bemerkte der Kronanwalt. »Der Polizeiarzt hat bestätigt, dass zwei davon sofort tödlich waren.«
Finchs Gesicht blieb ausdruckslos. »Und die Waffe?«, fragte er nach.
»Der Abgeordnete reiste zu seiner Zeit durch den gesamten Commonwealth«, erwiderte Pontypool. »Sein Haus gleicht einem Souvenirmuseum. Er verwendete eine Art Dolch als Brieföffner … Irgendwo aus dem asiatischen Raum, Indien, glaube ich. So weit mir gesagt wurde, lag er immer auf seinem Schreibtisch.«
»Die Forensik bedient sich seit zwei Jahren eines Fingerabdruckverfahrens. Gab es welche?«
»Keine … abgewischt«, seufzte Pontypool. »Die ganze Sache muss plötzlich und unglaublich gewalttätig abgelaufen sein.« Er griff nach dem Tuch und zog es über das wächserne Gesicht des Toten. »Sollen wir gehen?«
Dr. Finch antwortete nicht, folgte Pontypool aber durch das vordere Geschäft des Bestatters zum Einspänner des Kronanwalts, den dieser am Gehweg abgestellt hatte. Dabei bahnten sie sich den Weg durch eine Schar Schaulustiger.
»Es gibt nichts zu sagen«, lautete Pontypools Antwort auf die auf ihn einstürmenden Fragen.
Finch setzte sich neben ihn auf den Kutschbock. Pontypool nahm die Führleine in die Hand, ließ das Pferd antraben und fädelte sich in den, um diese Stunde, noch spärlichen Verkehr ein. Für eine geraume Weile sprach keiner von ihnen. Finch schien nur Augen für die ausgetrocknete Landschaft im August zu haben, dennoch war er es, der als erster das Schweigen brach.
»War der Abgeordnete hier in Barking beliebt?«
»Beliebt? Der Mann hat sehr viel für die Stadt getan, werter Doktor«, antwortete der Anwalt der Krone lächelnd. »Immerhin war er der Organisator und Hauptaktionär des Stromversorgungsunternehmens. Mit seinem Geld wurde die neue öffentliche Bibliothek gebaut. Er war auch für die Landschaftsgestaltung im Dorf verantwortlich. Außerdem hat er versucht die Lokalzeitung am Laufen zu halten und sich um ein Krankenhaus bemüht.«
»Das beantwortet meine Frage nicht«, gab Finch zurück. »Ich habe schon häufig die Erfahrung machen müssen, dass Großzügigkeit und Popularität nicht unbedingt Hand in Hand gehen.«
Pontypool verzog ein wenig das Gesicht. »Einige Leute hielten ihn in der Tat für ausgesprochen rechthaberisch. Er liebte es, die Zügel straff in der Hand zu halten und dürfte vermutlich selbst nicht daran geglaubt haben, damit bei allen Einwohnern gut anzukommen.«
Schweigend fuhren sie weiter, bis Pontypool schließlich nach rechts zeigte. »Dort ist der Sitz des Abgeordneten … dort auf dem Hügel. Sehen Sie die große Villa?«
Finch runzelte die Stirn. »Alles was ich im Augenblick sehe ist eine hohe steinerne Mauer. Ich frage mich, warum jemand eine solche massive Umfassung um sein Haus errichtet.«
Der Kronanwalt nickte. »Ich muss zugeben, dass auch mich diese Umfassung sehr an eine Festungsmauer erinnert«, bemerkte Pontypool und fügte hinzu »Sie umschließt übrigens nicht nur seine Villa. Auf dem Arreal befinden sich auch die Wohngebäude von seiner Tochter Lorraine Nicholson und seinem Sohn Joseph.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es dort jedem schwer fällt zu atmen«, murmelte Finch nachdenklich.
Pontypool lenkte den Einspänner durch das große, eiserne Tor und über die dahinterliegende kurvenreiche Auffahrt zum Haus des Ermordeten hinauf.
***
4
Die Familie des Toten hatte sich in der Bibliothek versammelt. Von hier aus war die geschlossene Tür zum Arbeitszimmer zu sehen, hinter der Dustin Steel in Begleitung eines Kriminalbeamten in Zivil wartete.
Der Mord hatte ihre Verbindungen neu zusammengewürfelt. Sie fühlten sich unwohl. Plötzlich war da ein Gefühl sich fremd zu sein. Die innige Verbindung, die sie ein Leben lang verbunden hatte, war durch den unvermittelten Tod des Familienoberhauptes gelöst worden. Eine offene Feindseligkeit, die über all die Jahre nie zum Vorschein gekommen war, brach sich ihren Weg.
Die einzige, die wie unter Zwang redete, war Lorraine Nicholson. Als Kind war sie eine jener rosa-weißen Porzellanpuppen-Blondinen. Die zerbrechliche, fast durchscheinende Schönheit hatte sie sich immer noch bewahrt, auch wenn ihre dreißig Lebensjahre