„Jetzt habe ich noch weniger Zeit für die Suche nach meinem Hochzeitskleid“, meinte Anaïk enttäuscht.
Kapitel 6
Marc Le Bras machte sich auf den Weg zu seinem Freund, Hervé Floc´h. Die beiden Männer kannten sich schon seit einer Ewigkeit. Sie waren Arbeitskollegen in der Verwaltung des Departements in Quimper gewesen. Le Bras hatte die Fahrzeugzulassungsstelle geleitet, und Hervé Floc´h war zuständig gewesen für die Erteilung der Führerscheine, der permis de conduire. Sie hatten sich über viele Jahre täglich gesehen und angefreundet. Ihre Kontakte hatten sich in der Zeit ihrer Erwerbstätigkeit auf die Arbeitszeit beschränkt. Sie hatten darüber hinaus keine privaten Kontakte gepflegt. Beide Männer waren verheiratet und hatten eine Familie. Le Bras wohnte mit seiner Frau Gaël und seiner Tochter Laora in Locronan und Hervé Floc´h in Douarnenez. Hervé hatte zwei Söhne, Marc und Pierre, die beide in Paris studierten. Marc Le Bras verlor vor ungefähr acht Jahren seine Frau. Sie war mit einem Wäschekorb die Kellertreppe hinuntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Seine Tochter Laora hatte vor drei Jahren geheiratet, und sowohl Marc als auch Hervé haben ihre Pension angetreten. Seitdem haben die beiden Männer ihre freundschaftliche Beziehung privat weitergepflegt. Sie teilen eine gemeinsame Leidenschaft, das Segeln. Sowohl Marc Le Bras als auch Hervé Floc´h besitzen ein Segelboot in Douarnenez.
Ihre Boote gehören zu den kleineren Yachten von sechs Metern. In den beiden zurückliegenden Jahren haben sie sich mindestens drei Mal in der Woche zu gemeinsamen Segeltörns am Hafen Rhu getroffen, Sie sind mal auf dem einen mal auf dem anderen Boot gesegelt. Das Wetter war ihnen gleichgültig, der Himmel konnte weinen oder lachen, sie hatten sich auf den Weg gemacht, außer wenn ein richtiger Sturm angesagt war oder im Fernsehen eine Berichterstattung von den großen Segelregatten lief, dann haben sie häufig gemeinsam vor dem Fernseher gesessen und ihrem Favoriten die Daumen gedrückt. Die Vendee Globe waren ein solches Ereignis, eine Non-Stopp-Regatta für Einhandsegler, die entlang des Südpolarmeeres einmal um den Globus führt und als die härteste Einhandregatta der Welt gilt. Sie hatten Armel Le Cléac´h die Daumen gedrückt. Diesmal würde der ewige zweite das Rennen gewinnen. Ein Bretone hatte vor dem Engländer Thomson gelegen, das war eine Sensation. Die Bretonen sprachen nur noch von Armel, und jeder im Finistère wusste, wer gemeint war. Marc und Hervé beschlossen spontan, zur Siegesfeier nach Les Sables d´Olonne zu fahren.
Als sie nach drei Tagen wieder in Quimper eintrafen besaß jeder von ihnen ein Autogramm von Armel, der die Weltumsegelung in 74 Tagen, 3 Stunden, 35 Minuten und 46 Sekunden geschafft hatte. Marc lud seine Tochter und seinen Schwiegersohn zur Feier des Sieges zu einem Restaurantbesuch ein. Man hätte meinen können, er hätte das Rennen gewonnen.
Für den folgenden Tag hatten sich Marc und Hervé zu einem Segeltörn zur Île des Seins verabredet. Es war ein frischer sonniger Tag mit idealen Windbedingungen. Sie verließen den Hafen Rhu und segelten an der Île Tristan vorbei durch die herrliche Bucht von Douarnenez. Diese Bucht zählte nicht umsonst zu den schönsten Buchten der Welt. Eingerahmt von der Halbinsel Crozon im Norden und dem Cap Sizun im Süden, an dessen Spitze die Pointe du Raz liegt, öffnet sich die Bucht zum Atlantischen Ozean. Die Farben des Wassers wechseln von hellem Türkisgrün zu tiefem Dunkelblau. Ein Bretone würde von glazik sprechen, weder eindeutig grün noch blau, eben glazik. Die Wasseroberfläche glitzerte im Sonnenlicht wie Diamanten.
Zwischen der Pointe du Raz und der Pointe du Van lag die berühmt berüchtigte Baie des Trépassés, die Bucht der verstorbenen Seelen. Für Segler war es eine Region, die erhöhte Aufmerksamkeit forderte. Felsenriffe und Untiefen hatten hier im Laufe der Zeit schon zahlreiche Opfer gefordert.
Marc und Hervé würden heute nördlich an der Bucht vorbeisegeln und dann in südwestliche Richtung drehen. Sobald sie den Leuchtturm, den Phare de la Vieille, vor der Pointe du Raz passiert hätten käme die Île de Sein in Sicht.
Dank der steifen Brise kamen sie rasch voran. Sie hatten die Bucht von Douarnenez noch nicht hinter sich gelassen und näherten sich der Pointe du Millier als sie den Frachter in einer Entfernung von höchstens einer halben Meile liegen sahen.
„Seltsam, was macht der hier? Es ist kein Ort zum Ankerwerfen, und Wasserstraßen verlaufen hier auch nicht. Die großen Schiffe passieren die Bucht viel weiter nordwestlich“, meinte Marc und griff zu seinem Fernglas.
„Vielleicht hat er sich verirrt oder hat einen Motor- oder Ruderschaden“, meinte Hervé.
„Nein, das hat er nicht! Guck mal!“ Marc reichte Hervé das Fernglas. Jetzt konnte auch er sehen, was Marc meinte. Neben dem Frachter hielten zwei Rettungsboote mit Außenbordmotoren. Über Strickleitern kletterten Menschen vom Frachter und gingen an Bord der Boote. Was ging da vor? Ein Frachter, der auf offener See Menschen in Rettungsboote klettern ließ, das konnte nur Menschenschmuggel bedeuten. Vermutlich Schleuser, die Menschen heimlich nach Frankreich brachten. Hervé suchte den Namen des Schiffes und prägte ihn sich ein, Prince Hadifa. Der Frachter fuhr eindeutig unter der Flagge von Malta. Hervé kannte sich mit Flaggen aus. Auf Malta gab es zwei Flaggen, eine offizielle und eine Handelsflagge. Die offizielle war links weiß und rechts rot, mit dem rot umrandeten Georgs-Kreuz in der linken oberen Ecke. Da die Farben mit der Flagge für das H des Flaggenalphabets identisch waren, und das Malteserkreuz leicht zu übersehen gewesen wäre, gab es noch die Handelsflagge.
„Ich schreibe mir den Namen des Schiffes auf, Marc, hier geht was Verbotenes vor. Wir melden es bei unserer Rückkehr“, meinte Hervé. Sie setzten ihre Fahrt zur Île de Sein fort.
Auch auf dem Frachter war die Segelyacht bemerkt worden.
„Chef, wir sind beobachtet worden“, rief der Kapitän dem Mann zu, der sich mit Chef anreden ließ, und zeigte auf das kleine Segelboot. Der Angesprochene nahm sein Fernglas zur Hand, suchte das Boot und sah die zwei Männer an Bord, die mit dem Fernglas den Frachter beobachteten.
„Die müssen weg“, sagte der Chef und griff zu seinem Handy. Er wählte eine Nummer.
„Was gibt‘s Emile?“, fragte ein Mann am anderen Ende, er hatte die Nummer des Anrufers auf seinem Display erkannt.
„Boss, wir haben ein Problem, das beseitigt werden muss. Zwei Segler haben uns beim Umladen der Fracht beobachtet. Kannst du das veranlassen?“
„Um wen handelt es sich?“
„Must du herausfinden, das Boot heißt Le Bras I und kommt aus Douarnenez.“
„Ich kümmere mich um die Angelegenheit“, antwortete der Boss und hängte ein.
„Der Boss kümmert sich um die Segler!“, rief er dem Kapitän zu. Sie beachteten die Segler nicht weiter und vollendeten ihre Entladung, wie sie es nannten, die noch eine ganze Weile dauern würde.
Kapitel 7
Mike Ngoya hatte die Botschaft des Bosses verstanden. Auf dem Boot Le Bras I, mit der Kennung DZ für Douarnenez, waren zwei Männer, die Dinge gesehen hatten, die sie nicht sehen sollten. Mike Ngoya überlegte, wie er das Problem beseitigen konnte. Er machte sich auf den Weg nach Douarnenez. Er musste den Besitzer ausfindig machen. Danach würde er eine Entscheidung treffen.
Der Boss, Yves Le Meur, der in Brest wegen Drogen- und Mädchenhandels bis vor einem halben Jahr seine Gefängnisstrafe abgesessen hatte, lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Der Anruf von Emile war alarmierend gewesen, aber es gab bestimmt keine Veranlassung zu großer Sorge. Mike würde das Problem schnell und geräuschlos beseitigen.
Seine frühere rechte Hand, Emile Collignon, war kurz vor seiner Verhaftung untergetaucht, er hatte ihm noch dazu verholfen. Emile war nach Tunesien gegangen und hatte dort einige Jahre lang gelebt. Als er erfahren hatte, dass sein ehemaliger Chef, Yves Le Meur, aus dem Knast entlassen worden war, hatte er