M. Walking On The Water
„Pluto“ (1990)
Auf ihr Konto gehen bereits eine ganze Reihe skurriler Sachen. Eine Single von 1987 war in ein Cover mit echtem Wasser eingepackt, und im Jahr darauf lieferten sie, gar nicht trendy, eine Mini-LP mit lauter Walzern ab. Dazwischen lag die erste Langrille, die schlicht den (seltsamen) Namen der Band trug: M. Walking On The Water – eine wilde Mischung aus Folk und Punk, auf der Akkordeon und E-Gitarren sich aufs Trefflichste vertrugen. Dieses Klanggerüst ist geblieben. „Pluto“ ist, um es vorweg zu sagen, die bisher beste Platte der Ruhrpottband, die sich mit schier diebischer Freude jeder schablonenhaften Kategorisierung zu entziehen sucht. Ihr Motto: stilistische Vielfalt, doch keine Beliebigkeit. So klingt’s manchmal, als hätte Kurt Weill einen Adrenalinschub zum Komponieren genutzt; dann wiederum weicht harter Gitarrenrock folkloristischer Anmut, oder eine liebliche Mundharmonika trifft auf hektische Bassläufe. Das mit geschlagener Akustikgitarre eingeleitete „Big Hole“ umgibt ein folkiges Flair, im überdrehten Folgestück –„Sigi’s Lovers“ – finden wir uns unter der Ägide der Band um Sänger Markus Maria Jansen plötzlich irgendwo auf dem Balkan wieder. In „Holy Night of Rosemarie“ bricht ein prächtiges Telecasterriff die von Mike Pelzers Akkordeon bestimmte sanfte Betulichkeit nachhaltig auf; dissonanten, wohl parodistisch gemeinten „Harmonie“-Gesängen folgt ein kräftiger Rocker mit wiederum orientalisch anmutendem Refrain – schließlich versteht man sich ausdrücklich als „kosmopolitische Musikgruppe“. Höhe-und Schlusspunkt der Platte aber ist das Titelstück „Pluto“ (Bassist Ulrich Kisters: „Das ist ein ganz herber Planet!“). Monotone Gitarrensequenzen, suggestive Perkussion (Jürgen Jaehnke) und ein Chorus, der an katholische Liturgien erinnert, schaffen ein Fluidum von hypnotischer Kraft, dem man sich kaum entziehen kann. Ein ziemlich einmaliger 6-Minuten-Song, den, merkwürdig genug, gerade der gebetsmühlenartige Aufbau vor Abnutzung schützt – ein kleines Meisterstück, das die kreative Potenz der Band erahnen lässt. Ihre Texte singen sie übrigens auf Englisch. „Das ist die Sprache des Rock’n’Roll“, sagt Markus Maria Jansen, und er hat Recht. Zweimal im Jahr spielen sie in England, trotz der Probleme, die eine Newcomerband vom Kontinent dort zwangsläufig hat – in Southampton etwa kamen nur vier zahlende Gäste. Doch es geht voran: Die Plattenindustrie hat bei der (noch) lndependentband schon angeklopft. Das große Ziel rückt also näher – Jansen: „Der einzige Grund für all dies ist es, berühmt zu werden. Meinen alten Freundinnen werden wir es noch beweisen.“ Nicht nur denen, wie mir scheint.
Michelle Shocked
„Captain Swing” (1990)
Eine Frau sitzt am Lagerfeuer, irgendwo in Texas. Sie spielt Gitarre und singt dazu: freche und melancholische Lieder, im Duett mit den Grillen. Die Flammen prasseln, Funken stieben. Ein Mann hört ihr zu. Die Batterien seines Walkman sind schwach, und dennoch schneidet er mit. Er weiß: Magischen Momenten wie diesen kann selbst versagende Technik nichts anhaben. Zufällig besitzt dieser Mann ein Plattenlabel, und er findet., diese Musik sei es wert, von vielen gehört zu werden – trotz des Knisterns und Gezirpes und bedrohlich schwankender Tonhöhen. Er tauft die Platte schlicht „The Texas Campfire Tapes“ (wie auch anders), und sie ist eine Ohrfeige fürs CD-Zeitalter. Die junge Frau, sie heißt Michelle Shocked, ist inzwischen nach Europa abgereist; mit Reagans Amerika hatte sie so ihre Probleme. In Amsterdam erzählt ihr irgendjemand, ihre Platte erobere gerade die englischen lndependentcharts, und sie kann es kaum glauben. Im Frühjahr 1987 sind sie und ihr Grillenchor die Nummer eins, ein ganzes Jahr lang sorgen die Campfire-Tapes für Lagerfeuerflair in englischen Hitlisten. Die Plattenindustrie nimmt sich des texanischen Talents an, ein zweites Albumfolgt. Dem Profiproduzenten traut Michelle trotzdem nicht recht. Doch siehe da: „In spite of his car phone and satellite dish we completed a second album“ – Titel: „Captain Swing“. Und in der Tat: Der Name ist Programm. Da röhren die Bläser, Bässe swingen und Besen fegen die Becken blank. Texas-Girl Michelle schwelgt nun so richtig in der Blues-und Jazzhistorie, mit Herz und GefühL Ihre eingestandenen Einflüsse lesen sich denn auch wie ein nostalgisches Who’s Who: Otis Rush, Fats Domino, Gershwin gar, Jerry Lee Lewis und viele mehr. Zum Glück hat sie sich trotz aufgemotzter Arrangements den Lausbubencharme des spröden Erstlings nicht abkaufen lassen. Ihre Texte: verschmitzt und keck, manchmal nachdenklich („Too little too late“), manchmal verspielt („The Cement Lament“). Die Musik klingt durchweg altmodisch – eine einzige Hommage an die gute, alte Zeit. Stilsicher bewegt sie sich zwischen Blues, Sintijazz und Dixieland, mit fließenden Übergängen und von allem immer etwas. Gut vorstellbar, dass selbst ein Woody Allen, ansonsten ausgewiesener Feind jedweder Musik nach 1950, bei „Captain Swing“ dahinschmölze – vor allem beim rasanten Oldtimejazzer „Must be luff“. Gut gemacht, Michelle. Indes: Die originäre Musik der 90er werden andere kreieren müssen.
Mike Oldfield
„Amarok” (1990)
Die irrige Ansicht, das einzig Beständige sei die Veränderung, widerlegt Mike Oldfield souverän. Mit „Amarok“ will er offenbar an Zeiten anknüpfen, da er für einen großen Komponisten gehalten wurde. Ja, ja, ihr Kids, die ihr nur Schlager a la „Moonlight Shadow“ mit Herrn Oldfield verbindet: Jene Zeiten gab’s. Mike nämlich schloss sich in den 70ern oft im Studio ein, um mannigfache Instrumentarien miteinander kopulieren zu lassen und dies mit unzureichender Technik aufzuzeichnen. Das ergab häufig einen ziemlichen Soundbrei, gebar aber auch nette Ergebnisse – zum Beispiel „Tubular Beils“, ein stilistisch irgendwo zwischen Bach, Folk und Rock angesiedeltes Plattenunikum. Keine Ahnung warum, aber Oldfield hat solches jetzt neu versucht, mit besserer Technik zwar, doch schlechterem Resultat. „Amarok“, gälisch für „Genie“, mischt die alten Zutaten – Elfenstimmern, dumpf polternde Bassdrums, Wimmergitarren, sanfte Hirtenweisen –, wirkt jedoch zerrissen und unverbunden. Dies, weil Oldfield uns dreist die Versatzstücke seiner sämtlichen Monumentalwerke neu vor- und damit einer schieren Überdosis an Déjà-vu-Erlebnissen aussetzt. „Bestenfalls“, schrieb SOUNDS einmal angesichts eines ähnlichen Opus, „kommt es zu einer Ejaculatio praecox.“ Das wäre ja immerhin etwas. „Amarok“ aber taugt nicht einmal als Aphrodisiakum.
Prince
„Graffiti Bridge” (1990)
Computerrhythmisierte Funk-Rapsoul-Gospel-Dancefloor-Delirien, bis zum Bersten prall gefüllt mit skurrilen Soundgags und sich stets auf multiplen Ebenen entwickelnd: Musik für Kopf-Hörer, die dennoch ihre Tanzbeine noch zu schwingen wissen. Bei keinem anderen Studiotüftler passiert so viel im Hintergrund, lohnt sich das Tiefenhören mehr als bei Prince; er adaptiert alle Genres schwarzer Musik, modelt sie um, ironisiert sie oder nimmt sie einfach ernst, bekundet hingebungsvolle Liebe zur Kunst wie zum Kitsch. Ein in allen Regenbogenfarben schillernder eigenständiger Soundtrack, den niemand von vorn bis hinten mögen wird, der aber allen zumindest partikelweise was zu bieten hat. Gäste unter anderen: Der Funkpapst George Clinton und Mavis Staples als gospelnde „Melody Cool“. Der Film wird übrigens bald nachgeliefert.
Quiet Force
„Smile” (1990)
Humor glaubt er zu haben, der unter Quiet Force firmierende Steven Toeteberg, wenn er großmäulig (und gespielt selbstironisch) seine neue CD „Smile“ in mäßigem Deutsch anpreist als „bestes New-Instrumental-Music-Album was je in Europa entstanden ist“. Das stimmt nicht. „Smile“ erscheint bei Innovative Communications (IC), dem neben Erdenklang wohl rührigsten Label des Genres, und präsentiert verspielten Eklektizismus, der oft in flache Seichtheit oder gefällig Tanzbares mündet. Toeteberg zitiert Miles Davis wie Morricone, Jazzrock wie Soul, auch Ethnopop und selbst HR1-Nachmittagssound. Vielfalt, konturlos.
Rio Reiser
„Rio” (1990)
Mit