Umbra et Imago
„The Hard Years – Das Livealbum” (1998)
Schmeißt Rammstein und die Sisters Of Mercy in einen Sack und heraus kriecht ein Wesen namens Umbra et Imago, das ungeachtet seines Namens doch deutscher Natur ist und den hymnischsten Gothrock spielt seit Melmoth auf Wanderschaft ging. In einer langsam sich drehenden Aufwärtsspirale rockt die Band live durch die Dunkelheit der Welt, Achim Vogels Keyboards wogen hoch und höher, und oben auf der Welle thront Sänger Mozart, der vor lauter Schauern, die ihn überlaufen, nur noch zittrig davon singen kann, wie viel Zärtlichkeit schmutzigem Sex innewohnt. Und das halbstündige Finale mit „Gothic Erotic“ und „Erotica“ würde selbst Wotan zum Schweigen bringen.
Verschiedene Künstler
„Nuggets – Original Artifacts from the first psychedelic Era” (1998)
1965 war plötzlich alles anders. Mitten im Lalaland des Beats tat sich ein Riss auf, und hervor blitzten wilde, seltsame Klangfarben. Der Rock war unter Drogeneinfluss erwachsen geworden und nannte sich psychedelisch. Drei Jahre währte die bewusstseinserweiterte Herrschaft; die Viererbox „Nuggets“ lieferte 1972 eine fantastische Nachlese der psychedelischen Ära. Jetzt erscheint sie neu, klanglich perfektioniert und wunderbar verpackt – ein Rausch aus bizarrer Musik, mal euphorisierend wie ein guter Trip auf LSD, mal bedrückend und düster wie der Kater am Morgen danach. Sie durchstöbert die Garagen, nicht die Charts, findet die dylanesken Mouse, die unvergleichlichen Seeds, die Chocolate Watch Band (die Stones des Undergrounds) oder skurrile Outdrops wie Sagittorius. Und die Amboy Dukes zeigen, dass man selbst den Blues ins Halluzinogene wenden kann. Nuggets? Nein: ein dicker Barren fürs Archiv!
Verschiedene Künstler
„Tibetan Freedom Concert” (1998)
Wären die auf drei Alben dokumentierten zwei Konzerte medial ähnlich präsent gewesen, hätten wir hier das „Live Aid“-Pendant fürs Restjahrhundert: Lauter tibetbewegte Gutmenschen spielen für einen guten Zweck, meist sogar passabel bis gut. Ein bisschen riecht es auch nach Woodstock: Wie damals Jimi H. nimmt sich hier Biz Markie das „Star Bangled Banner“ vor. Die übrigen Namen sind bekannter; summa summarum haben wir einen Schnappschuss all derer, die 1997 Rang und Namen hatten – von U2 bis Fugees, von Pavement bis Björk, von Radiohead bis Alanis Morissette. Und in Wechselwirkung mit thematisch verwandten Tibetfilmen im Kino wird sich das dicke Tripleding schon zum Hit auswachsen. Der Aura von „Live Aid“ oder „Woodstock“ aber macht es keine ernste Konkurrenz.
Virgin
„The Virgin illustrated Encyclopedia of Rock” (1998)
Aus der mächtigen „Encyclopedia of Popular Music“ hat der Virgin-Verlag nun Rockrelevantes extrahiert, nämlich 1 800 Namen von A Flock Of Seagulls bis ZZ Top. Der (englischsprachige) Wälzer glänzt mit Kurzbios, durchweg farbigen Fotos und einer grandiosen Diskografie am Ende: Alle Alben aller vorgestellten Künstler werden aufgeführt und – grandios! – auf einer Skala von fünf („herausragender Klassiker, der in keinem Regal fehlen darf“) bis 1 („bitte meiden, außer du bist Sammler“) bewertet. Ja, und dann gibt es da noch Platten ganz ohne Stern … Kleine Schwächen sind verzeihlich. Oder sollte man englischen Editoren vorwerfen, dass sie „Einsturzende Neubaten“ nicht im Duden gefunden haben? Arg karg allerdings der Alanis-Morissette-Eintrag. Trotz 98er-Redaktionsschluss fehlt jeder Hinweis auf den Status von Alanis’ „Jagged little Pill“-Album als erfolgreichstes Debüt aller Zeiten.
Waldeck
„Balance of the Force” (1998)
Ich fand’s ja schon immer lustig, dass Musik, die ein gewisser „Kruder“ kreiert hat, so sahnig sein kann. Scherz beiseite: Das Wiener DJ-Kultduo Kruder/Dorfmeister hat auch bei der Debüt-CD von Waldeck Hand angelegt – für die Szene ein Ereignis, sorgte doch schon die letztjährige EP für fiebrige Erwartung. Das Album enttäuscht sie nicht. Es enthält kunstvoll blutarmen TripDub, der erstaunlich wenig auf Samples setzt, dafür um so mehr auf den alten Massive-Attack-Effekt: junge, somnambule Sängerin (Joy Malcolm) in einer Welt aus elektronisch designtem Klang. Außer „Superpopstar“, das in seiner monotonen Rhythmik fast eine tribale Aura abstrahlt, klingt das alles klinisch rein – verchromte Musik mit der hauchfeinen Patina gestriger Ideen vom Übermorgen. Ziemlich große Klasse.
Whitney Houston
„My Love is your Love” (1998)
Gut waren die Fugees, böse Whitney. Weil die einen Emotionen transportierten, während die andere Instantgefühle verkaufte – und sie diese mit sorgsam zitternder Unterlippe auch noch bloß vorzugeben schien. Doch siehe da: Plötzlich ist Fugee Wyclef Jean auf Whitneys erstem Studioalbum nach acht Jahren mit von der Partie, und aus dem unsäglich schmusekatzig schmachtenden Kleiderständer mit Fünf-Oktaven-Stimme wird fast eine Soulsängerin. Dabei hilft auch die durchdachte Produktion, welche oft der Gefahr, im von Whitney einst selbst mitkreierten Mainstreambrei zu ersaufen, mit Transparenz begegnet. Manchmal zumindest – denn ein Duett mit Mariah Carey („When you believe“) muss wohl immer so enden, wie es (auch hier) endet: in einer Wegwerfschnulze.
Willard Grant Conspiracy
„Flying low” (1998)
Lieber Conny, lieber Claus-Marco! Manchmal ist es die Musik, die dir Dinge bewusst macht. Musik, die plötzlich da ist und die Luft verändert, die Farben und die Gedanken. Musik, die dich erinnert daran, dass du diesem und jenem noch etwas schuldest. Einen Brief zum Beispiel. Wozu hat man Freunde? Dass sie einem das Wichtige sagen, und dass du ihnen das Wichtige sagst. Dass du ihnen sagst, wenn dir eine Band unterkommt, die ganz tief in sich hineinschaut und perlende Melancholien und Melodien hervorholt. Eine Band, die Landschaften malt mit Akustikgitarren und sich so bedächtig bewegt, dass man der Musik zusehen kann beim Wachsen, derweil dir eine alte, zerkratzte Geige ans Herz geht. Sie kommen aus Amerika, und ich möchte, dass Ihr mir das Wichtige sagt: wie euch diese Band gefällt. Vielleicht per Brief? Bis bald – mw.
Yes
„Open your Eyes” (1998)
Wiedervereinigungen ehemaliger Supergroups sind meist Synonyme für Stillstand oder uncoole Anbiederei. Dieses Album steht für ersteres – obgleich Yes fast original reinkarnierte: Nur der Tastenmann Rick Wakeman war nicht aus seinem esoterischen Exil als Richard Clayderman der Heide Fittkau-Garthes dieser Welt zu holen. Am Ende, in einem endlosen Bonustrack, nach vertrackt-kunstvollen und leichenstarren Artrockexkursionen, lassen sie Vöglein zwitschern wie anno 69 Pink Floyd. Da hat man längst schon den Yes-Rat „Open your Eyes“ befolgt – und sich selbst vice versa ein „Schließ die Ohren“ anempfohlen.
Yothu Yindi
„One Blood” (1998)
Synergie: Zauberwort für die Musikindustrie, auch für Yothu Yindi. Auf Maffays „Begegnungen“ fand sich ihr Song „Tribal Voice“, der prompt zur Hitsingle wurde. Und natürlich gibt es das Stück auch auf der fünften YY-CD, einer verkappten „Best of“ mit neun alten Stücken, aufgemotzt von Maffays Produzententeam Carlton/Engel. Komisch, dass ausgerechnet „Tribal Voice“ einer der wenigen Schwachpunkte