Nach dem Badbesuch begann er in seine Sachen zu steigen. Zu dem morgendlichen Ritual gehörte, dass die Krawatte perfekt gebunden sein musste und die Schuhe hochglanzpoliert waren. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel war er mit sich zufrieden und fuhr in die Tiefgarage. Sein Auto schien so gar nicht zu seinem geschäftsmäßigen Anzug zu passen. Ein Skoda Octavia. Was man erst auf den zweiten Blick sah: ein RS. 210 PS stark und 265 Sachen schnell. Bewusst hatte er eine Allerweltsfarbe, nämlich Silber, gewählt, um den Wolf im Schafspelz zu geben. Kein weiterer Zierrat wie Spoiler war an dem Auto vorhanden. Wer sich so etwas anbaute hatte in seinen Augen erstens schlechten Geschmack, zweitens offensichtlich ein Minderwertigkeitsproblem und von vornherein verloren. Er wusste, dass er sich wieder quälend lange durch die Stadt bewegen musste, ehe er zur nächsten Autobahnauffahrt kam. Nimm‘ es so wie es ist, dachte er sich jeden Tag. Schließlich wolltest du ja im Zentrum wohnen. Nah dran, Kneipen und Clubs vor der Haustür. Die Freunde nicht weit. Man konnte nicht alles haben.
Obwohl er sehr gern harte Musik hörte lief im Auto eine CD mit Orgelmusik von Bach. Das half ihm ein bisschen die Schleicherei zu ertragen und nicht gleich auszuflippen, wenn mal wieder ein Idiot an der Ampel pennte oder einer ihm die Vorfahrt schnitt. Mit Absicht wählte er immer die gleiche Strecke, so war die Fahrtzeit einigermaßen kalkulierbar. Er war weiß Gott nicht darauf angewiesen jeden Tag zur selben Zeit und auf die Minute genau im Büro zu erscheinen, aber seinen Mitarbeitern wollte er schon bedeuten, dass er das gleiche von ihnen erwartete.
Da die Stadt von Baustellen wimmelte gab es nur die Chance auf pünktliches Eintreffen, wenn er die verlorene Zeit auf der Autobahn wieder gewann. So war er auf den Octavia gestoßen. Protz ging ihm am Arsch vorbei und ein Porsche stand jetzt noch nicht zur Diskussion, obwohl er sich den locker leisten könnte. Mehr Sein als Scheinen ging ihm durch den Kopf. Oje, wenn er sich jetzt politisch korrekt verhielt musste er diese Überlegung gleich wieder löschen, schließlich stammte der Spruch von Adolf Hitler. Politisch war er sehr wach und interessiert, nur kotzten ihn diese Spielereien um den Machterhalt an, denn da stand wenig Interesse dahinter, das Land vorwärts zu bringen, sondern selbst an der Täte zu bleiben. Braucht sich doch keiner zu wundern, wenn nur noch wenige zur Wahl gehen. Davor alles versprechen, danach würde man sich bemühen, die Versprechungen einzulösen. Wenn ich mich nur bemühen würde meinen Umsatz zu bringen, könnte ich gleich den Hut nehmen.
Er merkte, dass seine Gereiztheit zunahm. Pass‘ auf Junge, ermahnte er sich, gleich bist du auf der Piste. Den einen und anderen Fahrer kannte er, diese waren offensichtlich wie er jeden Tag auf dem Arbeitsweg. Einige mussten sich den Octavia schon von hinten ansehen und er hatte sich diebisch gefreut, diese teueren Autos so leicht zu verblasen. Mit der Zeit war es aber langweilig geworden und seine Risikobereitschaft nahm zu. Du wirst dich heute nicht locken lassen dachte er und ein Blick auf seine Uhr zeigte, dass noch viel Zeit blieb. Also blieb der Octavia auf der mittleren Spur und rollte dem Büro entgegen.
„Guten Morgen, Herr Franke.“
„Guten Morgen, Monika“ entgegnete er der Empfangsdame.
„Schöner Tag heute, hoffen wir, dass die Arbeit auch so gut läuft.“
„Aber sicher, Herr Franke, bei Ihnen doch immer.“
„Na, übertreiben Sie mal nicht, der letzte Monat war nicht so der Hit.“
„Aber dieser wird richtig gut, glauben Sie mir“ sagte Monika.
„Wollen wir es hoffen“ warf er knapp hin und ging zum Treppenhaus.
Sein Büro lag im dritten Stock und es war zur Gewohnheit geworden, das Treppenhaus zu benutzen und nicht den Fahrstuhl. Sitze ja heute wieder den ganzen Tag in einem Meeting nach dem anderen. Keine Bewegung. Kein Wunder, dass ich paar Kilo zu viel auf den Rippen hab. Er trieb regelmäßig Sport, aber das konnte den Fluch der Bewegungsarmut im Büro nicht ausgleichen.
Auf seinem Schreibtisch dampfte schon eine Tasse Kaffee.
„Danke Doris“ rief er durch das Büro.
„Gerne“ kam es von seiner Assistentin, die zwei Meter weiter weg saß zurück.
Das Büro des Abteilungsleiters lag an der Fensterfront und war ringsum von der Decke bis zum Boden verglast. Welcher Arsch hat das bloß projektiert ging es ihm durch den Kopf. Seit dem ersten Tag in der Firma ärgerte er sich über diesen Glaskasten. Wie ein Hamsterkäfig. Ja, ja ich weiß, die berühmte Transparenz. Für alles offen, alles sichtbar. Der Architekt muss den Arsch offen gehabt haben. Wo soll man in so einem Stall etwas abstellen können. Dennoch ging es ihm besser als den Mitarbeitern, denn denen hatte man mobile Arbeitsplätze verpasst, die Firma arbeitete an vielen Projekten, bei denen die Beteiligten schnell wechselten. So zog also Hinz und Kunz mit seinem mobilen Schreibtisch durch das Großraumbüro und dockte an die diversen Anschlüsse an, wo sich gerade das Projektteam befand. Zirka 90 Zentimeter hohe Raumteiler gaben die Möglichkeit, noch den Kopf seines Gegenübers zu erkennen. Keine Langeweile aufkommen lassen, die Leute in Bewegung halten, sie flexibel einsetzen und auch eine gewisse Selbst Kontrollfunktion unter den Mitarbeitern schaffen, hatte man ihm zum Beginn erklärt. Dass selbst ein Büroarbeiter ab und an so etwas wie einen Fluchtpunkt brauchte, hatte niemand berücksichtigt. Er hatte es sich angewöhnt, zu Beginn des Tages durch das Büro zu gehen und alle zu begrüßen. Das kam gut an. Auch sah er sofort, in welcher Verfassung die Leute waren.
Krüger hatte öfter mal Ehe Stress, kein Wunder bei seiner Frau, einer furchtbaren Xanthippe, die er ihm zu einer Abteilungsfeier vorgestellt hatte. Wunderlich, der ewige Junggeselle, der wahrscheinlich öfter mal ein Glas zu viel trank aber ein hervorragender Programmierer war, Katrin, fünfzig, allein und für alle deutlich sichtbar in den Wechseljahren und immer begierig nach einem offenen Fenster wegen ihrer Hitzewallungen oder Frank, den permanent Geldprobleme plagten, weil er Unterhalt für drei Kinder zahlen musste.
Er wusste viel über seine Leute, denn zur letzten Abteilungsfeier vor einem knappen Jahr hatte er sein Budget großzügig genutzt und vor allem in Form von Alkoholika bereitgestellt. Selbst ein sehr kontrollierter Trinker hatte er die Dinge an diesem Abend einfach laufen lassen. Es lag ihm nicht daran, die Leute auszuhorchen. Dazu war er zu souverän und hatte das auch nicht nötig und es gab keinerlei Vorsatz. Aber erwartungsgemäß schmeckte es allen an diesem schönen Abend auf dem Schiff und bald kamen die ersten, um sich ausheulen. So erfuhr er, mehr oder weniger ungewollt, was bei einigen schief lief. Das merkte er sich, hatte aber nicht vor, dieses Wissen gegen sie auszuspielen.
Das Meeting spulte er routiniert ab, Ziele wurden definiert und Aufgaben verteilt, alles wie gehabt. Dann noch einige Telefonate und Besprechungen und gegen 18 Uhr verließ er das Büro. Zu Hause angekommen nahm er sich ein Bier, setzte sich vor den Fernseher und ließ sich eine halbe Stunde berieseln. Dann raffte er sich noch einmal auf, kochte sich eine Suppe, trank danach einen Grappa, sah noch etwas fern und ging ins Bett.
Mittwoch, 14. Oktober 1942, Peenemünde
Vor gut zwei Wochen, am 3. Oktober, einem Sonnabend, war das Aggregat 4 erstmalig erfolgreich aufgestiegen. Die Gipfelhöhe betrug 85 Kilometer, die Geschwindigkeit fast Mach 5. Grund für alle, diesen Tag gebührend zu feiern. Dr. Riebel war bereits über 10 Jahre an dem Projekt beteiligt, denn schon 1936 hatten weitsichtige Vertreter der Wehrmacht angeregt, Raketen für den Fernkampf zu entwickeln. Die deutsche Luftwaffe war zu diesem Zeitpunkt noch führend und ihren potentiellen Gegnern deutlich überlegen. Dies zeigte sich insbesondere in Spanien, als die ersten Bf 109 am Himmel auftauchten und mit den russischen I 16 kurzen Prozess machten. Riebel ahnte damals schon, obwohl die Propaganda anders tönte, dass es eines Tages gegen Russland gehen würde.
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