»Wenn ich sie nicht hätte - sie sind ein wahrer Engel. Ihre Großmutter ist ganz bestimmt furchtbar stolz auf sie!«
»Und ich bin stolz auf sie, wie sie das alles verkraften und
sich nicht unterkriegen lassen.«
Miss Keane drückte seine Hand und lächelte.
»Das Leben ist etwas sehr Schönes und ich habe es immer als Geschenk betrachtet, auch wenn ich meine Zeit in den letzten Jahren mehr hier verbracht habe als zu Hause. Zeit ist das kostbarste was der Mensch besitzen kann und ich bin dankbar für jede Sekunde, in der ich geatmet habe!«
Lucas schluckte und schaute sie an. Sie lag da und lächelte ihn an. Es klang für ihn ein bisschen nach Abschied für immer. Liebevoll tätschelte er ihre Hand.
»Sie werden noch genug Zeit haben. Es wird schon alles gut
gehen. Schließlich operiert sie der Chef höchstpersönlich.« Miss Keane nickte schweigend.
»Wir sehen uns dann morgen früh! Aber jetzt wird geschlafen. Ihr Körper braucht morgen sehr viel Kraft«
»Auf Wiedersehen, Lucas.«, sagte Miss Keane, als er schon an der Tür stand.
»Gute Nacht, Miss Keane.«
Er verließ das Zimmer. Ein bisschen seltsam war das schon, so hatte sie sich aus seiner Sicht noch nie vor einer Operation verhalten. Aber sie wurde ja auch schließlich nicht jünger und mit zunehmendem Alter werden die
Menschen nun einmal auch ängstlicher. Das war nicht sein erster Fall.
TAG 6
In dieser Nacht ging es auf der Station sehr viel hektischer zu als sonst. Auf Zimmer 312 lag ein Mann, der die halbe Nacht hindurch randalierte. Er rief die ganze Zeit nach seiner bereits vor Jahren verstorbenen Frau und warf immer wieder die Stühle in seinem Zimmer um. Zwei Notfälle, die auf der Station landeten, mussten auch noch ordentlich versorgt werden. Lucas war in der Hektik gefangen. Immer dann, wenn er zwischendurch daran dachte eine kurze Pause einzulegen und einen Blick ins Tagebuch zu werfen, wurde er in ein anderes Zimmer gerufen. Eine Frau, die sich in ihrem Bett erbrochen hatte, ein Mann, der aus dem Bett gefallen war, kurzum, diese Nacht war alles andere als ruhig. Als er sich das erste Mal eine kleine Zigarettenpause an der frischen Luft gönnte, da war es bereits fast halb Sechs und seine Schicht in einer halben Stunde vorüber. Er war geschafft. So eine unruhige Nacht war in dem Krankenhaus in dieser kleinen Stadt eher nicht die Regel. Lucas ging wieder hinauf auf die Station. Jetzt war endlich wieder Ruhe eingekehrt. Er ging in das Zimmer von Miss Keane, um sie für die Operation vorzubereiten. Als er das Zimmer betrat schien sie noch friedlich in ihrem Bett zu schlafen. Lucas drückte den Schalter für das gedämpfte Nachtlicht und ging langsam auf das Bett zu um sie behutsam zu wecken.
»Miss Keane.«, flüsterte erst leise.
Er bemerkte, dass er auf Etwas, das am Boden lag, getreten war. Als er nach unten schaute lag dort ein Skalpell - ein blutiges Skalpell. Lucas ging in die Knie und starrte es an. Schließlich nahm er es vorsichtig in seine Hand. Er hob den Kopf und bemerkte, dass das Bettlaken an der Seite voller Blut war. Eine leblose Hand schaute unter der Bettdecke hervor.
»Miss Keane?«, flüsterte er abermals und mit zittriger Stimme.
Doch Miss Keane rührte sich nicht. Wie in Trance stand er langsam auf und hob vorsichtig die Bettdecke an. Im ersten Moment dachte er nach dem „Auf Wiedersehen“ von gestern Abend an Selbstmord. Doch was sich dann seinen Augen offenbarte war alles andere als das. Miss Keane war vom Kehlkopf an bis ganz nach unten der Länge nach komplett aufgeschlitzt. Sie lag dort splitternackt und ihre inneren Organe quollen aus dem Bauchraum. Ihre Hände ragten links und rechts waagerecht über die Bettkanten hinaus und ihre Beine lagen über Kreuz. Sofort schrie er um Hilfe und drückte wie ein Verrückter den Alarmknopf neben dem Bett. Ihm war sofort klar, dass kein Arzt dieser Welt sie hätte retten können. Dieser Anblick war selbst Jenny zu viel, die als Erste ins Zimmer gestürzt kam. Sie hielt sich den Mund unter leisen Würgegeräuschen zu. Lucas stand wie versteinert da, während ihn die herbeigeeilten Ärzte unsanft beiseite stießen. Doch auch ihnen war sofort klar, dass man an dieser Frau keine Wiederbelebungsmaßnahmen mehr durchführen konnte. Lucas ließ das Skalpell schließlich auf den Boden fallen und schaute mit weit aufgerissenen Augen auf seine Hand an der sich ihr Blut befand.
»Wir müssen die Polizei rufen….«, rief Doktor Fuller. »…Los, sagen sie Lucy Bescheid!«, und Jenny verließ sofort fluchtartig das Zimmer. Alle Anderen stürmten in das Zimmer hinein, sogar die Kollegen von der Frühschicht, die bald ihren Dienst beginnen wollten.
»Wer tut so etwas?«, sagte Lucas völlig verstört.
Er starrte noch immer geschockt auf seine mit Blut verschmierte Hand. Dann schaute er auf das Gesicht von Miss Keane. Man sollte annehmen, dass ihr Gesicht verkrampft und voller Angst sein musste, aber das war es ganz und gar nicht. Im Gegenteil, er glaubte sogar ein kleines Lächeln in ihrem Gesicht zu entdecken, wie jemand, der gerade einen
schönen Traum hat. Das war verrückt! Das war sogar total verrückt! Jetzt stürmte Lucas aus dem Zimmer und stand im Flur. Sowie er seine Augen von seiner blutigen Hand nehmen konnte, fiel sein Blick zum Ende des Ganges auf die Fahrstuhltür.
»Haltet den Fahrstuhl auf!!!«, brüllte er und rannte los. Hilflos musste er mit ansehen, wie sich die Fahrstuhltüre vor seinen Augen schloss und mit ihm verschwand SIE. Er drückte wie besessen den Knopf des Fahrstuhles, aber es war zu spät, der Fahrstuhl hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Lucas rannte zur Tür, die zum Treppenhaus führte und lief so schnell er nur konnte die Treppe hinunter. Schließlich fand er sich in der kleinen Eingangshalle wieder und drehte sich hilflos im Kreis herum in der Hoffnung, dass er schneller unten war als sie. Der Fahrstuhl kam unten an, öffnete sich und er war leer. Von Steve am Empfang war nichts zu sehen. Lucas lief zum Ausgang, riss die Tür auf und rannte Sarah, die plötzlich vor ihm stand, fast über den Haufen.
»Lucas, wie siehst du denn aus?«
»Hast Du die alte Frau gesehen?«
»Welche alte Frau? Nein, ich habe niemanden gesehen. Ich komme gerade von den Johnsons und dachte ich lade dich zum Frühstück ein!«
Lucas blickte hektisch hin und her und hörte ihr überhaupt nicht zu.
»Aber ich glaube, das ist kein guter Zeitpunkt, was?«, sagte Sarah.
Lucas, der so geschockt war wie noch nie zuvor in seinem Leben, antwortete noch nicht einmal auf die Frage, drehte sich um und lief wieder zurück.
»Danke, hat mich auch gefreut dich zu sehen!«, rief ihm Sarah noch hinterher, ging zu ihrem Wagen und fuhr davon.
Lucas lief zum hinteren Eingang des Krankenhauses, aber auch dort war nichts mehr von der alten Frau zu entdecken. Überhaupt niemand war dort zu sehen. Er stand da und zog seine Zigaretten, die er noch in seiner Hosentasche hatte heraus. Resigniert ließ er sich auf den Bürgersteigrand fallen und rauchte eine Zigarette. Von weitem hörte er, wie die Sirenen der Polizei immer näher kamen. Angewidert betrachtete er das nun mittlerweile getrocknete Blut an seiner rechten Hand. Diese alte Frau musste es gewesen sein, da gab es für ihn nicht den geringsten Zweifel. Lucas rauchte seine Zigarette hektisch auf ging wieder nach oben, wo bereits die Polizei auf ihn wartete.
»Sind sie Mr. Wilkins, der sie gefunden hat?«, fragte Captain Jack Walden.
Lucas nickte schweigend, während Captain Walden das Blut an seiner Hand bemerkte.
»Hallo - Hören sie mir bitte alle mal einen Moment zu!
Ich möchte jetzt alle bitten, die in dieser Nacht Dienst hatten mich aufs Revier zu begleiten. Cross, Stanton, ihr verhört die Patienten und die Frühschicht, vielleicht hat jemand etwas gehört oder gesehen.«
Als sie einige Zeit später auf dem Revier eintrafen, mussten zuerst alle ihre Fingerabdrücke abgegeben und anschließend wurde jeder einzelne von ihnen befragt. Lucas wurde zusätzlich noch mit einem Wattestäbchen über die