Rückblick am Grab
Liebe Clodia,
geliebte Freundin und Tochter,
in tiefe Trauer gehüllt, sitze ich an Deinem frischen Grab. Die nicht trocken werdenden Tränen verschleiern mir den Blick. Unschärfe beherrscht mich und Dein Platz vor mir ist ins Schwanken geraten. Ich muss mich setzen, um nicht den Halt zu verlieren, jedoch sind meine Gedanken wieder klar. Ein paar Tage sind nunmehr vergangen, seitdem Dir jemand diese unverzeihliche Schandtat angetan hat. Ich will nicht der Richter sein, denn Gott hat es so gewollt und geschehen lassen. Es muss einen Grund geben, auch wenn ich diesen nicht nachvollziehen kann. Wieso hat er mir mein Liebstes, mein Kind, genommen? Eltern sollten immer vor ihren Kindern sterben als ein naturbedingter Vorgang. Und doch auch ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen: Wieso habe ich die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt und verhindern können, in welcher Du schwebtest? Jedoch ist dieses Verlangen übermenschlich.
Clodia, ich möchte sterben, um bei Dir zu sein. Um mit meiner liebsten Tochter vereint zu sein. Ich weiß, wie sehr Du mich geliebt hast, obgleich Du es nie gefühlvoll ausgesprochen hast. Deine Augen haben es für Dich getan. Sehnsüchtige Blicke hast Du mir nachgeworfen und mich zuvor an den Händen festgehalten, wenn wir uns getrennt haben. Deine Blicke haben mir ewige Liebe signalisiert. Wenn ich Dich danach gefragt habe, hast Du mir stets geantwortet:
„Vater, frag nicht so viel!“
Es war Dein Inneres, welches dieses Bekenntnis nicht zuließ. Dein kontrollierender Geist, der Emotionen auf ein Minimum beschränkte. Und Du fügtest an:
„Mein Beruf bringt es mit sich, als beobachtete Frau sich immer unter Kontrolle zu halten. Sollen die Männer mich versuchen, zu enträtseln!“
„Ach ja, keine Mithilfe?“ kam als Antwort von mir.
„Nein, keine!“
Dann hast Du meine Hände gefasst, mir einen Kuss auch die Wange gesetzt und bist gegangen, eben mit diesen wehmütigen Blicken. Ich vermisse Dich so sehr, meine liebste Tochter! Und augenblicklich spüre ich Dich ganz deutlich, wie Du von oben auf mich blickst, wieder mit diesen elegischen Blicken in Deinen Augen. Sie lassen mich wanken, ob Du doch noch lebst und Dich nur auf einer langen Reise befindest. Augenblicklich hole ich mein Handy hervor und wähle Deine Nummer.
„Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar!“
höre ich von einer Computerstimme. Lange Reise? Ich zweifele. Oder? Das Bewundernswerte an der Illusion ist, dass es nichts Illusionäres daran mehr gibt, es lebt nur noch das Wirkliche. Im Hier und Jetzt.
Aus der Jacketttasche hole ich einen Umschlag hervor. Er beinhaltet einen Brief an Dich, meine Tochter. Geschrieben von mir, nachdem ich Veränderungen an Dir wahrgenommen habe. Du solltest ihn erst öffnen, wenn ich sagte: „Jetzt.“ Darin habe ich für Dich eine kleine Geschichte geschrieben, die Dir zum Nachdenken Anlass geben sollte. Dazu ist es nun nicht mehr gekommen.
Ich lese ihn Dir jetzt vor in der Hoffnung, dass Du die Zeilen mitanhörst.
Der (ungelesene) Brief an Clodia
(mit prophetischen Gedanken):
Und es kamen 8 goldrote Reiter zu den Menschen, öffneten ihre Umhänge und gossen das weiße Licht der frischen Gedanken über sie aus. Es sollte die Freiheit bedeuten. Jedoch die Menschen begriffen nicht oder sie wollten und konnten nicht begreifen. Sofort entstand ein mannigfaches Gesabber darüber, so als würden Steine aneinander gerieben, als würden Hebelwerke angeworfen, Motoren gestartet oder alles gleichzeitig in Gang gebracht. Lärm, überall war Lärm zu hören. Nichts glich mehr dem Zuvor. Die Stimmung glitt dem Chaos entgegen. Und als die Menschen sich ihrem Unverständnis bewusstwurden, kam Zorn in ihnen auf, der sich gegen diese Neuankömmlinge richtete. Wer sind sie? Woher kommen sie? Was wollen sie (von uns)? Wenn eben noch Uneinigkeit herrschte, waltete nunmehr Einverständnis und Verständnis im Zorn unter ihnen und gegen die Neuen gerichtet. Jedoch waren diese 8 Reiter bereits weitergezogen und nicht mehr auffindbar, nachdem sie mitangesehen hatten, was durch sie angerichtet war. Wenig später legte sich der Sturm der Entrüstung unter den Menschen, glättete sich zu leichten Wogen. In der Folge wirkte wieder jeder Mensch für sich, so wie er es eigentlich immer getan hatte. Mit der Zeit geriet die Angelegenheit ganz in Vergessenheit, auch weil niemand mehr darüber sprach und das Vergessen eingesetzt hatte. Selbst den Ältesten der Alten war diese Begebenheit beinahe entfallen, nur manchmal blitzte diese alte Geschichte wieder auf, die mittlerweile dermaßen verfälscht war, sodass sie sich auf Reiter mit Flügeln, die aus dem Himmel auf die Erde geschwebt und von Licht umgeben waren, reduziert hatte. Ursache und Wirkung spielten keine Rolle mehr und wurde auch von niemand hinterfragt.
Irgendwann öffnete sich der Himmel und es erschien eine 8 blättrige blaue Blume am Firmament, so mächtig, dass diese mit ihrer Korolla bis zum Horizont reichte. Und obgleich viele Generationen in der Zwischenzeit geboren waren, verhielten sich die Menschen wie ehemals und liefen wieder zusammen. Diesmal erfreuten sie sich an dem Bild der riesengroßen Blume hoch oben über ihnen. Wieder entstand ein allgemeines Tohuwabohu, jedoch entwickelte sich darüber kein Zorn. Die früheren Beweggründe fielen der Lächerlichkeit anheim und der Platz für Neues war frei. Und so machte sich ein allgemeines Erstaunen breit und gleichzeitig damit etliche Meinungen, was diese wundervolle Erscheinung zu bedeuten hätte. Einige fielen auf die Knie und beteten die sichtbare Allegorie götzenhaft an, wiederum andere fürchteten sich. Sinnvollerweise wurde die Erscheinung nach gewisser Zeit derart akzeptiert, als würde diese Blume zum immerwährenden Weltbild dazugehören. Nach dem Aufwachen schauten die Menschen zuerst zum Himmel und waren sofort beruhigt, wenn diese blaue Blume am Firmament zu sehen war. Jemand meinte, sie würde das wahre Leben offenbaren. Doch was sollte es bedeuten, fragten andere daraufhin. Was bedeutet das wahre Leben? Glück, Zufriedenheit, Ruhe, Sicherheit, Frieden oder der kleinste gemeinsame Nenner, der sie, die Menschen, miteinander verbindet? Es gab keine klärende Antwort darauf. Auf jeden Fall war festzustellen: Von der Blume am Himmel ging nichts Böses, sondern eine allgemeine positive Grundstimmung aus. Sie stand dort hoch oben und zeigte die ganze Schönheit in ihrer physischen und mentalen Unerreichbarkeit.
Eines Tages passierte etwas Außergewöhnliches und nicht für möglich Gehaltenes. Die Blume verwelkte langsam. Zuerst noch kaum wahrnehmbar, an einigen Stellen entstanden kleine braune Stellen, die sich schnell vermehrten, bis sie die ganze Blume überdeckten, wodurch das wunderbare Blau durch ein hässliches Braun ersetzt wurde. Und nicht nur die welke Blume, auch die gesamte Erde wurde von diesem fahlen Licht überschattet. Wiederum knieten die Menschen ehrfürchtig nieder und bettelten um die Unversehrtheit des Lichtes. Es half alles nichts! Das düstere Licht blieb hartnäckig erhalten und gestaltete Mensch, Tier und auch die Natur zu einem Einheitsbrei an farbloser Eintönigkeit und erzeugte in allen eine depressive Grundstimmung. Fragen nach der Schuld entstanden bei den Menschen. Haben wir uns zur Bequemlichkeit und Genuss hinreißen lassen, anstatt der wunderbaren Lebensfreude zu huldigen? Offensichtlich, so wurde entschieden, musste gesühnt werden, obgleich niemand die Schuld zu definieren vermochte. Und so bauten die Menschen eine riesige blaue Blume als Abbild auf der Erde, der sie fortan huldigen konnten. Denn, wenn etwas ewig Bestand hat, so ist es die Kunst und Wahrheit, die die Menschen in ihrem Denken gleichwerden lässt. Und tatsächlich gelang mit diesem Kunstwerk ein Ausbruch aus der depressiven Stimmung. Zum allgemeinen Erstaunen wurde diese blaue Blume nicht fahl überschattet.
Viele Menschen wurden zu Pilgern, in der Hoffnung, dem Einheitsbraun entfliehen zu können. Und obgleich niemals ein Mensch von der Wanderschaft zurückgekehrt war, ließen sich weitere nicht aufhalten, ihnen gleich zu tun. Die Beweggründe für die Wanderschaft