Kommissar Handerson - Sammelband. Adrienne Träger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Adrienne Träger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750246911
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      Handerson legte dem Mann beruhigend die Hände auf die Schultern und sah ihm in die Augen.

      „Das glaube ich Ihnen. Sie können nichts dafür. Aber Sie stehen unter Schock und sollten jetzt ins Krankenhaus.“

      „Wir fahren jetzt auch – oder brauchen Sie uns noch?“, fragte einer der Sanitäter.

      „Nein. Der Mann muss dringend ins Krankenhaus und gegen den Schock behandelt werden. Fahren Sie nur.“

      Die Sanitäter verfrachteten den Zugführer in den Rettungswagen, schlossen die Türen und machten sich auf den Weg. Der Mann tat Handerson leid. Er war nun schon seit über dreißig Jahren bei der Polizei und hatte in dieser Zeit mehrfach solche Fälle miterlebt. Die Lokführer konnten nichts dafür, dass sich jemand vor ihren Zug geschmissen hatte, aber das Gefühl, die Schuld dafür zu tragen, einen Menschen totgefahren zu haben, wurden sie nicht los. Viele von denen, die er kennengelernt hatte, waren nach einem solchen Zwischenfall nicht mehr in der Lage gewesen, ihren Beruf weiter auszuüben. Für den Mann hoffte er, dass er nicht zu diesen vielen gehören würde.

      Er hielt nach Anna Ausschau. Sie sprach mit ein paar Uniformierten, die sich kurz darauf in Richtung Gestrüpp bewegten. Er ging zu ihr.

      „Ich habe sie angewiesen, weiter nach den restlichen Leichenteilen und eventuellen persönlichen Gegenständen zu suchen. Wahrscheinlich ist etwas dahinten im Gebüsch gelandet“, sagte Anna und wies in die Richtung, in die die Uniformierten gingen.

      „Sag mal, hat man irgendwo auf der Brücke ihre Schuhe gefunden?“

      „Nein, wieso?“

      „Weil sie keine anhat.“

      „Komisch. Ich werde den Jungs noch sagen, dass sie auch nach den Schuhen suchen sollen.“

      „Da das hier kein Mord zu sein scheint, können wir wohl auch wieder fahren. Soll ich dich mitnehmen? Wie bist du überhaupt ohne Auto hergekommen?“

      „Ich war schon im Präsidium, als der Anruf kam und habe mich von einem Streifenwagen herfahren lassen.“

      „Kluges Kind. Wo steckt eigentlich Peter?“

      „Der meinte, da es sich augenscheinlich um einen Selbstmord handele, bräuchte nicht unbedingt die ganze Mordkommission hier aufzutauchen. Einer müsse ja die Stellung halten, falls etwas wirklich Wichtiges passieren sollte, und da er der dienstältere sei, sei es wohl meine Aufgabe, mir die Hände schmutzig zu machen. Komm, lass uns fahren und ihm erzählen, was er Schönes verpasst hat.“

      Anna sagte noch schnell einem Uniformierten Bescheid, dass sie auch nach den Schuhen suchen sollten, dann gingen sie. Als sie die Autos erreichten, konnten sie sehen, dass sich eine kleine Menschenmenge an der Absperrung versammelt hatte. Ein Beamter in Uniform hatte alle Mühe, sie zurückzuhalten. In der ersten Reihe stand ein hochgewachsener, schlanker Glatzkopf in den Vierzigern mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Notizblock in der Hand.

      „Der schon wieder“, dachte Handerson. Wie gesagt, er hasste menschliche Aasgeier, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich am Unglück anderer zu weiden. Aber wenn er eines noch mehr hasste, dann waren es Reporter, die damit noch versuchten, Geld zu machen. Und Hans Schreiber vom Carlshavener Kurier war irgendwie immer da, wo es eine Leiche gab. Handerson hegte die dumpfe Vermutung, dass er heimlich den Polizeifunk abhörte, um sofort zur Stelle zu sein, wenn sich etwas Schlimmes ereignete. Anscheinend gab es im beschaulichen Carlshaven einen großen Markt für Nachrichten über Mord und Totschlag.

      „Kommissar Handerson, können Sie schon etwas sagen?“

      „Nein“, knurrte Handerson den Reporter an. „Und selbst wenn, würde ich es dir bestimmt nicht verraten. Mach, dass du weg kommst.“

      „Soll ich das zitieren?“

      „Arschloch.“

      „Na, na, Herr Kommissar, wer wird denn gleich so ausfallend werden?“

      Handerson überlegte ernsthaft, Schreiber eine reinzuhauen. Er hasste diesen Typen wie die Pest, aber Anna legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter.

      „Kein Kommentar. Komm, Björn, wir gehen.“

      Sie zogen die Schutzkleidung aus und stiegen ein. Handersons Wagen rollte langsam durch die sich vor ihm teilende Menge.

      Kontuba, Mitte August 2013

      Einer der Nachbarn hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Er war Gärtner in einem der besseren Viertel von Kontuba und hatte es irgendwie aufgeschnappt. Eine Agentur in der Stadt vermittelte Jobs nach Europa. Die Bezahlung dort sollte sehr gut sein. Sie fand das Angebot interessant, hatte sie doch eine kranke Mutter zu unterstützen. Der Vater war schon lange tot und viele ihrer Geschwister noch klein. Mit ihren achtzehn Jahren war sie die älteste. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester wollte mit, als sie ihr davon erzählte, doch wenn sie selber nach Europa ginge, dann müsste Maria zu Hause in Kontuba bleiben, um sich um die kranke Mutter und den Rest der Familie zu kümmern. Denn sie konnte nun einmal nicht gleichzeitig in Europa Geld verdienen und zu Hause in Afrika die Mutter pflegen. Also hatte sie es ihrer Schwester ausgeredet, sich ihre besten Sachen angezogen und war mit dem Bus zu dieser Agentur gefahren.

      Nie hätte sie gedacht, dass man sie dort nehmen würde, aber es kam bekanntlich immer alles anders, als man denkt, und die Hoffnung starb zuletzt. Lange hatte sie nicht warten müssen. Eine freundliche Frau war auf sie zugekommen und hatte sie in ein Büro gebeten. Sie besaß glücklicherweise gute Referenzen, da sie in den letzten Jahren schon öfter als Dienstmädchen in den reicheren Vierteln von Kontuba gearbeitet hatte. Die Frau war beeindruckt und erklärte ihr, dass sie eine Stelle als Dienstmädchen für sie im amberländischen Carlshaven habe. Das Ehepaar für das sie arbeiten würde, käme auch aus Mabunte und wollte eine Haushaltshilfe aus der Heimat. Sie könnte schon in zwei Wochen anfangen. Die Kosten für den Flug übernähme die Agentur. Auch eine Unterkunft würde für sie organisiert werden.

      Sie fühlte sich wie im siebenten Himmel. Nun gut, sie hätte lieber nach Deutschland oder England gewollt. Von Deutschland hatte sie schon viel gehört und Englisch sprach sie zumindest ein bisschen. Amberland sagte ihr so gar nichts, und sie kam sich ein wenig dumm vor, als sie die nette Frau von der Agentur fragte, wo es denn liege. Die musste doch denken, dass sie so ein ungebildetes Mädchen aus den Slums von Kontuba war, das nicht richtig lesen und schreiben konnte. Dabei war sie ein paar Jahre zur Schule gegangen, als ihr Vater noch lebte. Lesen und schreiben konnte sie. Aber eben nur mabuntisch und ein ganz klein wenig englisch. Die Frau von der Agentur blieb aber freundlich und machte nicht den Eindruck, als ob sie das Mädchen vor sich für dumm hielte. Sie holte einen Atlas heraus und zeigte ihr Amberland auf der Karte. Es lag an der Ostsee zwischen Deutschland und Polen. Ein sehr kleines Land, das wohl seinen Namen daher hatte, dass dort an den Stränden regelmäßig kleine Mengen Bernstein angespült wurden. Die nette Frau erklärte ihr, man spräche dort Deutsch, und viele Menschen, vor allem die jüngeren, sprächen auch Englisch. Das beruhigte sie etwas.

      Sie fuhr mit dem Bus nach Hause, erzählte ihrer Familie und ihren Freunden im Township von ihrem Erfolg und machte sich sofort daran, ihre Koffer zu packen, auch wenn sie nicht viel besaß, das sie hätte hineinlegen können. In zwei Wochen würde sie gutes Geld im Ausland verdienen und ihre Familie unterstützen können. Vielleicht verdiente sie auch so viel, dass die Familie sich endlich ein besseres Zuhause leisten könnte.

      Carlshaven, Polizeirevier, 08. September 2014

      „Weidmann hat gerade angerufen“, begrüßte Sergeant Peter Müller seine Kollegen an diesem düsteren Morgen. „Er hat die Autopsie an unserer Unbekannten abgeschlossen. Der Bericht liegt bei ihm in der Gerichtsmedizin. Wenn wir ihn möglichst schnell haben wollen, sollen wir ihn bitte persönlich abholen.“

      Handerson verdrehte die Augen. Wie überall war auch die Polizei von Amberland chronisch unterfinanziert. Auf Tatortbefunde musste man Wochen, wenn nicht sogar Monate oder Jahre warten. Mit den Autopsien sah es nicht besser aus. Zwar waren Mord und Totschlag in Carlshaven nicht gerade an der Tagesordnung, weshalb die