Das Blut des Sichellands. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844268690
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mehr als alle anderen.

      „Du hast zu mir gesprochen, wie es niemand sonst vermocht. Und doch sprichst du nicht nur zu mir, sondern auch zu den Menschen. Du sprichst Recht und Weisheit und erhebst mit deinem Wissen und deinen Worten den Geist aller. Und so wie in deinem Geiste das Wissen reift, soll in deinem Leibe auch die Frucht reifen, die ich dir schenke und deren Geist noch größer sein wird, denn sie ist ein Teil von mir.“

      Und es kam, wie er versprochen hatte, denn auch ihr erschien er in seiner greifbaren Gestalt und gab ihr jenen Samen der Weisheit und des Wortes, den er ihr verkündet.

      „Siehe, deine Nachkommen werden die Diener des Himmels sein. Sie werden für das ganze Volk die Säule der Gerechtigkeit und des Wissens sein. Aber überdies hinaus werdet ihr diejenigen sein, die allein zu mir sprechen dürfen. Nur euch werde ich antworten, wenn ihr ruft und nur ihr werdet meine Verbindung sein!“

      So rief er zuletzt die dritte Ausgewählte zu sich. Es war jene, die mehr Feinde als jeder andere getötet hatte und welche kein Mitleid, keinen Schmerz und kein Bedauern kannte, wenn sie ein Leben auslöschte.

      „Du bist die Kraft und die Rache und die Wut, du bist die Kämpferin, die sich mehr als jede andere um dieses Land verdient gemacht hat. Deine Hand nahm zahllose Leben, die sonst das Volk bedroht hätten, dein Herz schlägt mit Zorn. So werde ich diese Kraft noch steigern, denn so wie die Wut in dir erwächst, so wird nun auch mein Erbe in dir wachsen und es wird dir neben so vielem, was mein ist auch noch etwas geben, was dich belohnen wird, denn dein Durst wird unstillbar sein.“

      Da nahm er sich die Dritte und offenbarte ihr seine wahre Macht und er schenkte ihr den Samen, der glühender loderte als das Feuer der Hölle und der mehr schmerzte als jede Klinge, die sie je gehalten und der sie dennoch mehr mit Befriedigung erfüllte als jede bisher geschlagene Schlacht.

      „Ihr bringt die Dunkelheit über den Feind und die ewige Verdammnis. Ihr werdet die Gebieter der Nacht sein und jeder, der sich euch anschließt wird die Furcht, die andere Völker empfinden, noch weiter steigern und dem Land jenen Schutz geben, den sonst nur ich zu leisten vermag. In euch fließt mehr meines Blutes als in jedem anderen. Doch ihr seid mir so nahe, dass ich euch von mir weisen muss. Die einen können mich nicht rufen. Die einen müssen mich rufen. Aber ihr, ihr dürft es nicht. Eure Fehler und Sünden werde ich härter als die aller anderen strafen!“

      Und so gebaren die drei Dienerinnen dem Großen seine Nachkommen, aus denen die drei Säulen entstanden, auf denen die Sichel ruht. Und an einer jeder Spitze stand von nun an der Herrscher der Säule, der aus den Seinen erwählt wurde.

      Das Blut des Sichellands

      11. Tag des Sis im 8. Jahr Satons

      Kaum ein Sonnenstrahl fiel durch die dichten Kronen und Äste der Kiefern, Fichten und Eiben und am Waldboden herrschte ein dunkelgrünes Dämmerlicht, selbst in den Sommermonaten. Dann roch es nach Moos und Farn, nach Pilzen und Beeren.

      Im Sommer.

      Aber der war noch fern.

      Weiter oben, dort wo der Forst das geheimnisvolle Yto Te Vel schützte, lag sogar noch Schnee. Schnee, der hier gar nicht erst bis zum Boden gelangte, sondern nur die höchsten Baumwipfel bestäubte.

      Im Sommer war es hier, im fortwährenden Schatten, angenehm kühl.

      Im Sommer.

      Jetzt kämpfte Mensch wie Tier gegen eisige Kälte. Die Bäume schützten vor Regen, Schnee und Wind. Aber nicht vor dem Frost. Gerade an Tagen wie diesen, wenn die Sonne hoch über dem Wald scheinheilig am milchigen Winterhimmel strahlte, schnitt diese Kälte besonders unbarmherzig ins Fleisch. Man fühlte, sah und hörte sie, wenn man durch das gefrorene Unterholz wanderte und der Atem sich in glitzernde Nebelwolken verwandelte.

      Aber es kam selten jemand in diese so stille Gegend. Nur hin und wieder suchten einzelne Menschen den Weg durch den Forst und sie verharrten nie lange, sondern mühten sich, die Reise rasch hinter sich zu bringen. Nicht, weil sie sich vor Wölfen und anderem Getier fürchteten und auch nicht, weil sie der Düsternis des Waldes entfliehen wollten, sondern weil es sie zu ihrem Ziel zog und es nur wenige, dann aber umso dringlichere Gründe gab, Yto Te Vel zu besuchen oder zu verlassen.

      Doch dieses eine Mal ließen sie sich Zeit, die Menschen, die vom Süden hergekommen waren. Vier an der Zahl und sie ritten auf Mondpferden, von denen ein jedes so schön gewachsen war, dass es dem gemeinen Volk auf den Straßen Semon-Seys die Sprache verschlug, wenn sie sich dort zeigten.

      Beinahe eine Stunde war es nun her, dass die Gruppe eine Rast beschlossen hatte. Drei Männer und eine Frau waren abgesessen und einer von ihnen, ein wahrer Hüne, hatte sich sofort daran gemacht, ein Feuer zu entfachen, an dem sich die erschöpft wirkende Gefährtin aus ihrer Mitte wärmen konnte. Ein anderer nahm seinen eigenen Umhang ab und legte ihn ihr zusätzlich zu ihrem eigenen über die Schultern.

      "Früher hat mir diese Kälte nichts ausgemacht. Und auch das Reiten nicht." sagte die Frau leise und obwohl sie sich um einen scherzhaften Ton bemühte, entging ihren Begleitern nicht die Sorge, die darin mitschwang. Sie begriffen nicht ganz, woher sie entstammte, denn der Grund für die fehlende Kraft lag auf der Hand und eigentlich hätte die Geschwächte gerade deshalb fröhlich sein müssen. Doch schon seit geraumer Zeit wich das strahlende Lächeln häufig einem traurigen Ausdruck, den sich niemand so recht erklären konnte.

      Auch nicht der, der sich am meisten um sie bemühte.

      "In Yto wartet ein warmes Haus auf uns. Es tut mir leid, dass ich dir diese beschwerliche Reise zumute. Wir hätten früher gehen sollen."

      Sie schüttelte sachte den Kopf.

      "Wir konnten nicht früher gehen. Du wurdest gebraucht und du wirst es immer noch. Und ich weiß, wie wichtig es ist, dass es in Yto Te Vel geschieht und nirgendwo sonst."

      Sie zog seinen Umhang noch enger um sich und presste die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten. Im selben Moment durchfuhr ein heftiger Schmerz ihren Leib und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Sofort hob ihr Beschützer den Kopf.

      "Alles in Ordnung." versuchte sie, ihn zu beschwichtigen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Atem sich beschleunigte. "Das ist ganz normal. Sie... sie hat manchmal ein ziemliches Temperament." Jetzt lächelte sie wieder.

      "Bist du dir wirklich sicher? Ich meine, es könnte auch ein 'er'..."

      "Ich bin mir sicher, Saton. Und die Heiler sind es auch." Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: "Bist du enttäuscht?"

      Doch Saton lachte.

      "Enttäuscht? Darüber, dass ich eine wundervolle Tochter bekomme, die uns schon vor ihrer Geburt auf Trab hält? Niemals! Sie wird ihrer Linie alle Ehre machen!"

      "Das wird sie...." bestätigte die Frau leise. "Eine wahre Tochter der Nacht. Sie lässt mich kaum schlafen.“

      „Das zeigt, wie gesund sie ist.“ erwiderte Saton stolz. Doch dann wurde er nachdenklich. „Es ist eine schwere Zeit für dich. Ich sehe, dass du oft Schmerzen hast. Die Heiler...“

      „... können das nicht verhindern. Nein, Saton, kein Heiler kann das. Aber nicht mehr lange, und dann...“

      Sie sprach den Satz nicht zu Ende, doch aus irgendeinem Grund schien sie das Vergehen ihrer Beschwerden eher zu fürchten, denn herbeizusehnen. Saton hatte es längst aufgegeben, seine Gemahlin nach dem Ursprung ihrer Traurigkeit zu fragen und er war sich sicher, dass sie bald zu ihrer alten Zuversicht zurückfinden würde, wenn das Kind erst geboren war.

      Einige Schritte vom Feuer entfernt standen die beiden Männer, die das Paar begleiteten. Sie zogen sich während der Ruhepausen stets ein wenig zurück und mühten sich darum, den werdenden Eltern die eine oder andere Gelegenheit zu einem unbelauschten Gespräch zu geben. Jetzt beugte sich der Hochgewachsene, der die Flammen entfacht hatte, zu seinem nur wenig kleineren Kameraden hinüber.

      „Mit der Nacht nimmt die Kälte zu. Und Yto Te Vel ist noch weit.“

      Der