Viele Male hörte ich sie sagen: „Es ist schön, dass es dich gibt.“ Aber nicht ein Mal konnte oder wollte sie gestehen. „Ich will dich. Ich begehre dich. Ich kann ohne ihn nicht mehr leben. Ich liebe dich! Ich bin dir verfallen.“ Deswegen trieb mich ständig die Furcht, sie könnte sich einem anderen zuwenden. Ich konnte mir ihrer nie sicher sein. Jetzt war es so weit. Es war besser mich trennen zu lassen. Zwei Jahre Besessenheit hatten einen Hampelmann aus mir gemacht.
In den letzten Wochen hatten sie ungewohnt häufig Migräneattacken heimgeholt. Sie nahm Pillen. Öfter, als ich es von ihr kannte, schlugen ihre Launen um. Die waren grundsätzlich schon für jedermann Gesetz, nur nicht für sie selbst. Bedrückte sie ihr unberechenbares Gemüt, schwieg sie wenigstens, meistens jedenfalls, weil sie wusste, wie sehr sie damit zur Last werden konnte. Als Kind hatte sie Asthma, keinen Vater und eine Mutter, die ihr zu früh die eigene Selbständigkeit zugemutet hatte, ohne selbst fest im Leben zu stehen. Heute hatte sie dieses Kopfweh und einen Mann, der gehörig darunter litt, was ihre Eltern falsch gemacht hatten. Darüber und über andere Prägungen ihrer Persönlichkeit durch ihre neurotische Mutter und ihren herrischen Vater zu reden, war stets eine heikle Angelegenheit.
Eve hatte sich seit geraumer Zeit aus Gründen zurückgezogen, über die ich nur mutmaßen konnte. Wegen ihrer Dünnhäutigkeit verzichtete ich auf nahezu jede Konfrontation und verkniff mir meinen Unmut, was oftmals noch anstrengender geriet, setzte ich mich doch dadurch in steter Regelmäßigkeit dem Vorwurf der Ignoranz aus. So faszinierend sie sein konnte, so sensibel war sie geworden. Neben meiner ständigen Verlustangst ärgerte mich noch mehr, wie wenig ich es vermocht hatte, diesen Menschen anzustecken und glücklich zu machen. Die vier Quadratmeter Innenraum meines alten Mercedes’ waren, so hatte ich gehofft, ein geeignetes Terrain, um ihr die eine oder andere Wahrheit zu entlocken. Doch Eve schlief. Ich hätte nicht denken sollen. Ich hätte nicht einmal lernen sollen, denken zu können.
Ich wusste noch genau, wo er geschrieben stand. Wie konnte ich diese bedeutenden Worte vergessen? Immer mal wieder war er mir in den letzten Wochen zu verschiedenen Anlässen in den Sinn gekommen. Er war mit einfachen Worten ausgedrückt und, war meine Erinnerung verlässlich, eher beiläufig gefallen, gewissermaßen als heilsame Weisheit vor die Füße von Jünglingen geworfen wie die berühmten Perlen vor die Säue. Doch dieser Ausdruck besaß für mich mehr an Bedeutung als viele Persönlichkeiten von Rang hätten äußern können. Statt über uns hatten wir eine ganze Weile zuvor über die Rolle des amerikanischen Präsidenten für das Weltgeschehen parliert. Wir waren so unbedeutend. Ich hatte die Zuversicht besessen bei der Frau, die ich liebte, mit diesem Ausdruck eine Diskussion auszulösen, obgleich ich wusste, dass Hoffnung das Seil war, auf dem die Narren tanzten.
Eve und ich hatten an diesem Sonntag meine Familie besucht. Ich wollte es so. Ich hatte darauf bestanden, ähnlich wie damals meine Eltern auf etwas beharrt hatten, was mir nicht gefiel. Eve hatte dieser Reise nur widerwillig zugestimmt. Meine Schwester war Chorleiterin und hatte mit einhundertfünfzehn Kindern zwischen Pups und Pubertät ein Musical auf die Bühne gebracht.
In „Meereszauber“ beklagten allerlei Kreaturen und Fabelwesen die Entführung einer Prinzessin, deren Gesang ihnen im trüben, vom Menschen verseuchten Ozean wenigstens ein bisschen Glück und Harmonie brachte. Die Aufführung war reizend. Am Mittag waren wir bei meinen Eltern zum Essen gewesen. Es war einer dieser ungeplanten und außergewöhnlichen Besuche, die aus und in alle Richtungen der Republik neben den Familienzusammenführungen an hohen Feiertagen unternommen wurden, wenn sechshundertfünfzig Kilometer Wegstrecke spontan waren.
Ich konnte Eves Protest ja durchaus verstehen, aber Mütter enttäuschte man nicht, hatte man am Tag zuvor sein Erscheinen zugesagt. Abgesehen davon war Eve eine Meisterin des stundenlangen Zorns, wenn ich eine Absprache mit ihr gleich welcher Art nicht einhielt.
Am Abend saßen wir im Wagen auf der Rückfahrt nach Hamburg, wie Hunderttausende auch, die sich schon im Korso zu Mama und im Stau zu Oma gequält hatten. Hochgezüchtete Motoren verpesteten den lauen Sommerabend. Im Inneren der vielfach auf Pump geschossenen Statussymbole war, schaute man den muffigen Mucken nach, tausendfach eine ähnliche vergiftete Atmosphäre wahrscheinlich. Gerne hätte ich, ein kleines bisschen nur, mit der jungen Frau vom Kilometerstein einhundertachtzehn weitergeflirtet, ohne sofort ihren entblößten Hintern vor mir zu haben.
Eve hatte sich aufgesetzt. Seit ein paar Minuten verfolgte sie aufmerksam den automobilen Wahnsinn um uns herum. Schließlich griff sie gelangweilt ein altes Schulheft von mir. Darin stand er geschrieben, in der krakeligen Handschrift eines Quintaners.
„Seite dreizehn,” bemerkte ich und versuchte, ihre Aufmerksamkeit mit unterstützendem Mienenspiel zu erhöhen.
Eve schlug die betreffende Seite auf. „Fünfzehnter Oktober, zehn Uhr und elf Minuten,” murmelte sie und las weiter. Sie stutzte und sah mich derart verständnislos an, als hatte sie soeben die unverschämten Enthüllungen eines Pennälers gelesen, der sich darüber wunderte, warum er sich mit links so schwerlich selbst befriedigen konnte. „Deswegen haben wir nach dem Essen fast eine Stunde auf dich gewartet?“ fragte sie erstaunt mit zusammengekniffenen Augen, nachdem sie meine blaue Tintenschrift entziffert und schon am Mittag aus ihrer Verstimmung keinen Hehl gemacht hatte, weil ich sie mit meiner Familie für die Dauer der Suche nach diesem Relikt hatte allein sitzen lassen.
„Der Satz! Ich meine den Satz!“
„Ja doch! Das dachte ich mir,” grummelte sie zurück. „Ich habe ihn gelesen. Was ist so bedeutsam daran?“
„Was so bedeutsam daran ist? Na, aber hör’ mal?“ Ich war enttäuscht. So war sie immer, wenn sie keine Lust hatte sich möglicherweise bereichern zu lassen, ärgerte ich mich und beäugte, wie schwer es ihr fiel, einen angemessenen Kommentar zu bedenken.
Eve spielte immer noch beleidigtes Mädchen. „Ah, that’s it, righty right, ja doch! It works,” denglischte sie schließlich.
„Mein alter Englischlehrer war ein großer Geist, musst du dazu wissen,” begann ich nicht unwesentliche Hintergründe zu erklären. „Er sprach alle romanischen Sprachen, unterrichtete Deutsch und so ganz nebenbei erklärte er uns, welcher Piepmatz während des Unterrichts am Fenster gerade vorbeigeflogen war, oder welches Blatt von welchem Baum nach unten trudelte und warum das Poesie war. Wie gesagt, er war ein großer Geist. Jedenfalls richtete er bisweilen mahnende Worte an uns Jungs, die wir auf einem Gymnasium, dessen Trägerschaft in den Händen von nicht immer ganz so sittsamen Ordensmännern lag, die Schulbank drückten.“
„Das hat er gesagt? Jungs! Ihr habt’s gut. Ihr seid blöd!“ Sie schaute noch skeptischer zu mir herüber.
„Auf den Punkt genau, oder? Jungs! Ihr habt’s gut. Ihr seid blöd!“ wiederholte ich tiefsinnig. „Da war ich dreizehn.“ Mein Blick forderte, solange wie es mir der Verkehr gestattete, eine Reaktion auf diese Gelehrtheit ein.
„Ja! Hab’ selten etwas Spannenderes gelesen,” erwiderte sie nüchtern und blätterte ohne jede weitere Bemerkung durch meine Aufzeichnungen.
Mir kam es so vor, als suchte sie nach kleinen Herzchen, in denen Buchstaben gekritzelt waren, die von der Kleinen aus der ersten Reihe stammten und erste Gefühlsausbrüche dokumentierten. Eve hatte mir einfach nicht zugehört, denn Wesen wie sie gab es damals in unserer Klasse noch nicht. Die Ordensmänner mochten zunächst keine Frauen unterrichten, mussten ein paar Jahre später aber wegen rückläufiger Schülerzahlen ihre heilige Vorliebe opfern, was sie nie verwunden hatten, für uns Jungs jedoch deswegen zum Segen geriet, weil sich einige aus der Bruderschaft die Mädels zur Brust und mehr genommen hatten, um die alle Schüler stets einen großen Bogen gemacht hatten. Eve hielt lediglich ein schnödes Vokabelheft in Händen, das aber immerhin der Grundstein war, mich in ihrer Muttersprache unterhalten zu können.
„Der Satz meint