Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudyard Kipling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746747873
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versagten. Seitdem sie das Dorf verließen, hatten sie nichts gefangen, noch auch nur eine einzige Wildfährte gesehen. Ihr Vorrat reichte noch knapp eine Woche, und ein Sturm war im Anzug. Zehn Tage hintereinander tobt manchmal der Polarsturm, ohne nachzulassen, und jedem bringt er sicheren Tod, der sich während der Zeit im Freien befindet. Kotuko baute ein Schneehaus, groß genug, um auch den Schlitten mit hineinzunehmen (denn niemals soll man sich von seinem Fleischvorrat trennen), und als er den letzten Eisblock zurechthackte, der den Schlußstein des Daches bilden sollte, sah er auf einer niedrigen Eisklippe eine halbe Meile entfernt etwas kauern, das zu ihm herüberblickte. Diesig war die Luft; das, was dort kauerte, schien vierzig Fuß lang zu sein und zehn Fuß hoch, mit einem zwanzig Fuß langen Schwanz hinter sich, und die Umrisse der Gestalt schienen sich fortwährend zu ändern. Auch das Mädchen sah das Phantom, aber anstatt vor Schreck aufzuschreien, sagte sie gelassen: »Das ist Quiquern. Was wird nun kommen?«

      »Es wird zu mir reden«, erwiderte Kotuko; aber das Schneemesser zitterte in seiner Hand, als er sprach, denn so gern auch ein Mann glauben mag, mit fremdartigen häßlichen Geistern gut Freund zu sein, so ungern läßt er sich beim Worte nehmen. Quiquern nun gar ist das Gespenst eines gigantischen zahnlosen Hundes ohne ein Haar. Hoch im Norden soll er leben und erscheint immer im Lande am Vortage großer Ereignisse, seien sie nun froher oder trauriger Art. Aber selbst der Zauberer hütete sich, von Quiquern zu sprechen, der die Hunde toll macht. Gleich dem Gespensterbären hat er eine große Anzahl von Beinpaaren – sechs oder acht –, und das Etwas, das da in der diesigen Luft hin und her sprang, besaß entschieden mehr Beine, als ein wirklicher Hund bestenfalls brauchen könnte.

      Kotuko und das Mädchen verkrochen sich schnell in die schützende Hütte. Natürlich konnte der Quiquern, wenn er die beiden haben wollte, das Haus über ihren Köpfen zusammenschlagen, aber es war doch ein tröstlicher Gedanke, durch einen fußdicken Schneewall von der tückischen Dunkelheit draußen getrennt zu sein. Der Sturm brach los mit einem Schrei des Windes wie der gellende Pfiff einer Lokomotive und hielt drei Tage und drei Nächte mit gleicher Stärke an, ohne auch nur einen Augenblick nachzulassen. Sie hielten die steinerne Lampe zwischen den Knien, gossen Tran nach, nagten an halbwarmem Robbenfleisch und sahen den schwarzen Ruß sich an der Decke festsetzen – zweiundsiebzig lange Stunden. Das Mädchen überprüfte den Fleischvorrat im Schlitten, er reichte gerade noch für zwei Tage; Kotuko untersuchte die eiserne Spitze und die Tiersehnenleine seiner Harpune, seine Seehundlanze und seine Vogelpfeife. Nichts weiter gab es zu tun.

      »Bald werden wir bei Sedna sein – sehr bald«, flüsterte das Mädchen. »Drei Tage noch, dann legen wir uns nieder und gehen von dannen. Schweigt deine Tornaq? Singe ihr doch ein starkes Zauberlied und locke sie her.«

      Er hob zu singen an, heulte im scharfen Diskant der Zaubergesänge und – der Sturm ließ allmählich nach. Mitten im Gesang stutzte das Mädchen plötzlich, legte ihre im Fausthandschuh steckende Hand und dann ihren Kopf auf den Eisboden der Hütte. Kotuko folgte ihrem Beispiel, und die beiden knieten nebeneinander, starrten sich an und horchten mit jeder Fiber ihres Leibes. Kotuko schnitt einen Span vom Fischbeinrand einer Vogelschlinge ab, bog ihn zurecht und steckte ihn aufrecht ins Eis. So fein wie die Kompaßnadel steckte die dünne Rute im Eise; und sie horchten nicht mehr, sondern beobachteten sie. Leise zitterte die Rute ein wenig, kaum bemerkbar; nun vibrierte sie gleichmäßig sekundenlang, kam zur Ruhe und vibrierte wieder, dieses Mal nach einer anderen Richtung der Windrose.

      »Zu früh!« sagte Kotuko. »Irgendeine große Eisdecke brach auf, weit draußen.«

      Das Mädchen zeigte auf die Rute und schüttelte den Kopf. »Der große Eisbruch ist es«, sagte sie, »höre, wie das Grundeis pocht.«

      Wieder knieten sie hin, und nun vernahmen sie seltsames Stöhnen und Pochen, scheinbar unter ihren Füßen. Zuweilen klang es, als ob ein neugeborenes Hündchen über der Lampe hängend quiekte; dann als ob ein Stein auf hartem Eis geschoben würde und dann wieder wie dumpfer Trommelwirbel. Aber alles klang langgezogen und gedämpft, als ob die Laute wie durch ein Horn von weit, weit her aus der Ferne herüberdrangen.

      »Liegend werden wir nicht zu Sedna gehen«, sagte Kotuko. »Der Eisbruch ist es! Die Tornaq betrog uns. Sterben müssen wir.«

      Das mag seltsam genug klingen, aber die beiden standen unmittelbar vor einer ernsten Gefahr. Der dreitägige Sturm hatte das tiefe Wasser an der Baffinbucht südwärts getrieben und an der Grenze des weitreichenden Landeises, das von der Insel Beylot nach Westen sich erstreckt, aufgestaut. Die starke Strömung außerdem, die von Lancester-Sund ausgeht, führte Meile auf Meile von Packeis mit sich, rauhes, welliges Eis, das nicht zu Feldern zusammenfror. Und dieses schwimmende Packeis bombardierte die Kante der mächtigen Eisfelder, während das Schwellen und Wogen der sturmgepeitschten See sie gleichzeitig untergrub. Was Kotuko und das Mädchen gehört, war das matte Echo des Kampfes, der dreißig oder vierzig Meilen entfernt raste; und die kleine verräterische Rute hatte gebebt unter den Stößen.

      Aber, wie der Innuit sagt, wenn das Eis einmal erwacht nach langem Winterschlaf, weiß niemand, was geschehen mag, denn die schwere Eisdecke ändert ihre Gestalt fast so schnell wie Gewölk. Vorzeitiger Frühlingssturm war augenscheinlich über die Eisnacht gekommen, und alles mögliche konnte daraus entstehen.

      Dennoch fühlten sich die beiden jetzt ruhiger und zuversichtlicher. Brach die Eisdecke, dann gab es kein Warten mehr und kein Leiden. Geister, Kobolde und Hexenvolk trieben sich umher auf dem krachenden Eise, und sie würden vielleicht, fiebernd vor Erregung, Seite an Seite mit all dem wilden Gezücht eingehen in Sednas unterirdisches Reich. Als sie nach Abflauen des Sturms aus der Hütte traten, wuchs das Gedonner am Horizont noch ständig, und um sie her ächzte und stöhnte das See-Eis.

      »Es lauert immer noch«, sagte Kotuko.

      Auf dem Gipfel eines Hügels kauerte oder saß noch das achtbeinige Ding, das sie drei Tage zuvor gesehen hatten, und heulte fürchterlich.

      »Folgen wir«, sagte das Mädchen. »Vielleicht kennt es einen Weg, der nicht zu Sedna führt.« Aber sie taumelte vor Schwäche, als sie die Zugleine des Schlittens ergriff.

      Das gespenstische Wesen bewegte sich langsam und schwerfällig über die Spalten, immer westwärts, dem Land zu; und sie folgten ihm, indes der grollende Donner von der Eisgrenze näher und näher rollte.

      Gespalten lag das Feld, geplatzt nach allen Richtungen hin, bis zu vier Meilen landeinwärts! Mächtige Schollen, zehn Fuß dick, von wenigen bis zu vielen Ellen Durchmesser, rüttelten und stießen und prallten gegen die noch ungebrochene Eisdecke, getrieben von der schweren Dünung des Meeres. Dieser Sturmbock war sozusagen die Vorhut der Heere, die der Ozean gegen die Eisfläche schleuderte. Das ununterbrochene Reiben und Krachen der schweren Schollen übertönte fast den Lärm der Packeisschichten, die unter die Eisdecke geschoben wurden, wie man Spielkarten rasch unter das Tischtuch schiebt. An seichten Stellen des Wassers türmten die Schichten sich übereinander, bis die unterste Schicht fünfzig Fuß tief auf Schlamm stieß und die verfärbte See hinter dem Eis eingedämmt wurde; erst der wachsende Druck trieb zuletzt das Ganze wieder vorwärts. Zu alledem brachten Sturm und Strömung noch die wirklichen Eisberge heran, segelnde Gebirge zackigen Geklüfts, losgelöst von der Grönländer Seite des Wassers oder der Nordküste von der Melvillebucht. Feierlich kamen sie herangezogen, umspült und umzischt von weißschäumenden Wellen, und rückten gegen die Eisdecke vor wie eine altertümliche Flotte unter vollen Segeln. Da kam ein Eisberg an, so hoch und gewaltig, als könnte er eine Welt vor sich hertreiben; plötzlich aber neigte er sich, kippte über, sank hilflos in die Tiefe und wälzte sich in einem Gischt von Schlamm und hochaufspritzendem Wasser. Ein viel kleinerer Berg hingegen schlitzte die Eisdecke auf, ganze Tonnen von Eis nach beiden Seiten werfend, und schnitt eine kilometerlange Spalte, bevor er zum Stillstand kam. Manche fielen wie ein Schwert nieder und hieben rauhkantige Kanäle; andere wieder zersplitterten in Schauern von Blöcken, die weit dahinrollten. Wieder andere standen buchstäblich aus dem Wasser auf, kollerten und wanden sich wie in Schmerzen, plumpsten schwer auf die Seite, und die See raste über sie hinweg. Das Schieben und Drängen, Treiben und Stoßen der Eismassen in allen denkbaren Formen und Gestalten erstreckte sich längs der Nordseite der Eisdecke, so weit das Auge reichte. Von der Stelle aus, wo Kotuko und das Mädchen standen, erschien der Eisbruch nur wie eine unruhige, schiebende, kriechende