»Hm – ja! Ich habe etwas läuten hören von einem Menschenjungen, das sie in einem Wolfsrudel aufnahmen. Ikki erzählte mir davon, das Stachelschwein, ich wollte es aber nicht glauben. Ikki tut sich immer dick mit Neuigkeiten, die er nur halb verstanden hat und dann unrichtig ausposaunt.«
»Aber es ist wahr. Ein so prächtiges Menschenjunges hat es noch nie gegeben«, sagte Balu. »Es ist das beste und klügste und mutigste von allen Menschenjungen, mein eigener Zögling, der Balus Namen berühmt machen wird in den Dschungeln weit und breit; und im übrigen liebe ich – lieben wir ihn, Kaa.«
»Tss! Tss!« machte Kaa, den Kopf hin und her wiegend. »Auch ich habe einmal gewußt, was Liebe ist. Ssss! Ich könnte euch Geschichten erzählen ....«
»Ein andermal. Mit leerem Magen vermögen wir nicht, sie genügend zu würdigen!« sagte Baghira schnell. »Unser Menschenjunges ist jetzt in den Händen der Bandar-log. Wir aber wissen, daß sie von allen Wesen in der Dschungel Kaa allein fürchten.«
»Ja, nur mich fürchten sie und haben guten Grund«, sagte Kaa. »Schwätzer, Narren, Gecken – Gecken, Narren, Schwätzer – das sind diese Affen. Aber so ein Menschending in ihren dummen Händen – das ist allerdings eine böse Sache. Sie werden überdrüssig der Nüsse, die sie pflücken, und werfen sie weg. Zweige schleppen sie halbe Tage hindurch mit sich herum, in der Absicht, wer weiß was für große Dinge damit zu verrichten – zerknicken sie dann und lassen sie liegen. Wahrhaftig, dieses Menschending ist nicht zu beneiden. Und sie haben mich – was war es doch gleich? – gelber Fisch genannt, nicht wahr?«
»Wurm – Regenwurm – gelben Regenwurm«, verbesserte Baghira, »und noch vieles andere sagten sie, das man sich schämen muß zu wiederholen.«
»Nun gut, wir müssen ihnen einen Denkzettel geben, so daß sie in Zukunft von ihrem Herrn und Meister mit Achtung reden! Aaa-ssp! Wir müssen ihrem Gedächtnis etwas nachhelfen! Wohin, sagst du, haben sie das Junge geschleppt?«
»Die Dschungel allein weiß es. Gegen Sonnenuntergang, glaube ich«, erwiderte Balu. »Wir dachten, du könntest uns Auskunft geben, Kaa!«
»Ich? Wieso? Ich verspeise sie, wenn sie mir in den Weg kommen, aber ich schleiche ihnen nicht nach, diesen Bandar-log, diesen Kaulquappen, dieser übelriechenden Sumpfpest. Hssss!«
»Hoch, hoch! Hoch, hoch! Hillo, illo, illo! Sieh doch, Balu vom Sionirudel!«
Balu wandte den Blick aufwärts, um auszumachen, woher die Stimme kam – und dort oben schoß Tschil, der Geier, aus dem Äther herab, und seine Schwingen flammten im Abendlicht. Es war schon fast die Stunde für Tschil, zur Ruhe zu gehen; aber weit war er gesegelt über der Dschungel und hatte den Bären lange vergeblich im Dickicht gesucht.
»Was gibt's?« fragte Balu.
»Ich habe Mogli bei den Bandar-log gesehen. Er bat mich, euch Botschaft zu bringen. Ich folgte ihnen. Sie haben ihn zur Affenstadt geschleppt, den ›Cold Lairs‹, auf der anderen Seite des Flusses. Vielleicht bleiben sie dort eine Nacht oder zehn Nächte oder auch nur eine Stunde. Ich habe den Fledermäusen aufgetragen, während der Dunkelheit Wache zu halten. Das ist alles. Jagdheil euch allen dort unten!«
»Vollen Magen und guten Schlaf wünsche ich dir, Tschil!« rief Baghira. »Ich werde deiner gedenken bei nächster Jagd und den Kopf ganz allein für dich zurücklegen, du bester aller Geier!«
»Keine Ursache – durchaus keine Ursache – das Menschending wußte das Meisterwort – ich tat nur meine Pflicht«, und Tschil kreiste empor, hin zum felsigen Horst.
»Das lobe ich mir!« lachte Balu stolz. »Er hat den Kopf nicht verloren, der Prachtkerl! So jung er ist, hat er das Vogelwort nicht vergessen – und dabei noch auf der wilden Jagd durch die Baumwipfel.«
»Nachdrücklich genug ist es ihm eingetrichtert worden«, knurrte Baghira. »Aber stolz bin ich auf ihn, und nun fort, so schnell wie möglich, zur Affenstadt!«
Sie alle wußten von diesem Ort, doch nur wenige Dschungelleute waren jemals dort gewesen; denn »Cold Lairs«, wie sie es nannten, war eine alte verlassene Stadt, verfallen und halb begraben unter der Dschungel, und zumeist meiden die Tiere der Wildnis den Ort, wo Menschen hausten. Nur das Wildschwein liebt es, in den Ruinen herumzuwühlen. Außerdem lebten die Affen dort, soweit man bei ihnen überhaupt von einem Wohnort sprechen konnte, und kein Tier, das Selbstachtung besaß, kam diesem verachteten Platz nahe – nur in Zeiten der Dürre schlichen sie unwillig herbei, wenn sich in den verfallenen Zisternen noch ein wenig fauliges Wasser gehalten hatte.
»Eine halbe Nacht brauchen wir dorthin, wenn wir auch noch so eilen«, sagte Baghira; und Balu machte ein ernstes Gesicht: »Ich werde traben, was ich kann«, meinte er bekümmert.
»Wir können nicht auf dich warten, Balu. Du mußt nachkommen. Wir müssen fort, so schnell wir laufen können – Kaa und ich!«
»Was, laufen!« spottete Kaa. »Habe ich auch keine Füße, so nehme ich's in der Schnelligkeit noch mit euch allen auf.«
Und damit machten sie sich auf den Weg. Balu tat sein Bestes, Schritt zu halten; aber bald mußte er schnaufend und nach Atem ringend sich niedersetzen, um auszuruhen. Sie ließen ihn zurück. Baghira eilte davon in dem geschwinden Panthergalopp. Aber so schnell er auch lief, der riesige Körper der Python blieb, lautlos dahingleitend, stets an seiner Seite. Kamen sie an einen Gebirgsbach, war Baghira im Vorteil, denn mit mächtigem Satz sprang er darüber hinweg, während Kaa die quirlenden Wasser durchschwimmen mußte – aber schon im nächsten Augenblick sah er den breiten Kopf mit der spitzen Zunge wieder an seiner Seite.
»Beim gesprengten Schloß, das mich befreite«, keuchte Baghira, als die Dämmerung hereinbrach. »Ein schlechter Läufer bist du nicht.«
»Hungrig bin ich!« sagte Kaa. »Und sie nannten mich gesprenkelten Frosch!«
»Regenwurm – gelben, kriechenden Regenwurm.«
»Das kommt auf eins heraus! Vorwärts! Kannst du nicht schneller?« Und Kaa glitt dahin wie der Blitz, und er fand dabei stets mit sicherem Auge den kürzesten Weg.
In »Cold Lairs« vergaß das Affenvolk ganz, daß Mogli mächtige Freunde besaß. Sie hatten den Knaben in die verlorene Stadt geschleift und waren nun für den Augenblick sehr mit sich zufrieden. Mogli hatte noch nie vorher eine indische Stadt gesehen, und wenn ringsum auch nur Schutt und Trümmer waren, schien ihm doch alles herrlich und wunderbar. Irgendein König hatte die Stadt vor langer Zeit auf einem Hügel erbaut. Man sah noch die Spuren der mit Steinen gepflasterten Straßen, die bergan zu zerfallenen Toren führten, wo letzte Splitter morschen Holzes in rostigen Angeln hingen. Bäume waren aus den Ruinen emporgewachsen; die Wehrgänge waren eingestürzt, und Schlingpflanzen hingen in dichten Büscheln aus den hohlen Fenstern der Wachttürme.
Den Hügel krönte ein weiträumiger Palast ohne Dach; der Marmor der Höfe und Brunnen war gebrochen und von grünlichem Moos überdeckt, und selbst die schweren Steinplatten im Elefantenhof des Königs waren von Gräsern gespalten, von jungen Bäumen in Stücke gesprengt. Von der Höhe des Palastes aus blickte man auf Reihen über Reihen dachloser Häuser – sie bildeten einstmals die Stadt, jetzt aber lagen sie schweigend in Trümmern und sahen aus wie leere Bienenstöcke, von Dunkelheit erfüllt. Auf dem Marktplatz, wo die vier Straßen zusammentrafen, ragte die große kopflose Steinmasse des Götzenbildes, vor dem die Brahmanen einst kniend den Boden geküßt hatten. – Statt der Andächtigen füllten nun wilde Feigenbäume die zerfallenen Tempel; und an den Straßenecken, wo man sich einst an Brunnen und Zisternen zum Plaudern versammelte, sah man jetzt Wasserlachen, auf denen grüne Pflanzen wucherten.
Die Affen nannten diesen traurigen Ort ihre Stadt und gaben vor, die Dschungelvölker zu verachten, weil sie in Wäldern lebten. Und doch wußten sie nicht einmal, zu welchem Zweck man diese Bauten errichtet hatte und wie man sich ihrer bediente. Oft hockten sie im Ratssaal des Königs im Kreise beieinander, suchten sich die Flöhe ab und dünkten sich Menschen; oder sie jagten durch die dachlosen Häuser, häuften Steine und Ziegelstücke