Der Fall der Irminsul. Jörg Meyer-Kossert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Meyer-Kossert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738095531
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ob sie sich hinsetzen sollte oder wie sie gar auf einen der beiden Hocker gelangen sollte, blieb sie einfach stehen. Rune schien diesen Platzmangel und ihre Unentschlossenheit überhaupt nicht zu bemerken.

      "Ich möchte mit dir über meine jüngste Tochter Frigga sprechen."

      Schweigsam musterte er sie. Iken war es leid. Sie arbeitete sich zu einem der Hocker durch und ließ sich nieder. Wenn er ihr keinen Sitzplatz anbot, so musste sie sich wohl selber einen nehmen.

      Dann begann sie ihm vom gestrigen Geschehen in ihrem Langhaus zu erzählen. Sie ließ auch die früheren Bilder, die Frigga gesehen hatte, nicht aus und erzählte ihm alles, was sie in diesem Zusammenhang so mit Unruhe erfüllte.

      Schweigsam hörte Rune ihrem Bericht zu. Schon nach wenigen ersten Sätzen ahnte er, was hier auf ihn zukam. Er ließ sich jedoch nichts anmerken. Reglos blieb sein Gesicht, während Iken redete.

      Rune kannte das Mädchen nur oberflächlich. Blass, für ihr Alter ein wenig klein und mit einem wilden Haarschopf war sie ihm im Kopf geblieben. Das war alles, was er über sie hätte sagen können. Die Hütte der Eltern lag zudem nicht auf seinen gewohnten Pfaden und es hatte bislang auch kaum Grund für ihn gegeben, seine Wege dort vorbei zu lenken.

      Ein Mädchen also?!

      Dieser Gedanke war ihm bislang nicht wirklich ernsthaft in den Kopf gekommen. Sein eigener Lehrer war Yggsir gewesen, ein bärtiger muskulöser Schamane, und dessen Lehrer Ongard musste wohl ebenso wild und angsterregend ausgesehen haben. Wohl hatte es auch einige weibliche Schamaninnen in der Reihe der Vorfahren gegeben, doch kannte er selbst nun einmal nur diese letzten beiden und war bisher immer von einer weiteren männlichen Nachfolge ausgegangen.

      Wenn es stimmen sollte, wenn also tatsächlich an der Aussage der Mutter des Kindes etwas dran sein sollte, dann wäre ihm selbst ein Fehler unterlaufen: dann hätte er sich nicht offen gehalten für die Schau seines Nachfolgers, sondern hätte - ohne es zu bemerken - einer unbewussten Unterstellung, einem Irrtum aufgesessen, einem Anfängerfehler gewissermaßen, der ihm als erfahrenen Schamanen niemals hätte passieren dürfen: sich ein Bild zu machen, bevor ihm die Bilder gegeben wurden!

      Ein Unwohlsein lief durch seinen Körper.

      Er gab sich einen Ruck. Iken durfte nichts bemerken von seiner Unsicherheit. Er musste fest und sicher wirken.

      „Gut", sagte er mit tonloser Stimme.

      „Du weißt, es ist deine Pflicht, mir von deinen Wahrnehmungen zu berichten. Und so hast du recht getan mich aufzusuchen. Was dein Kind betrifft, so werde ich mich nach altem überlieferten Gebot zurückziehen, um zu prüfen, was zu prüfen ist."

      Er wandte sich um. Iken wusste nicht, ob das Gespräch beendet war und ob sie nun gehen musste. Reglos harrte sie und wagte nicht selbst etwas zu tun.

      Rune ging ein paar Schritte auf ein langes hölzernes Eichenbrett zu, das an einer offenbar besonders hergerichteten Wand seines Zeltes von zwei kraftvollen, merkwürdig geformten Wurzeln getragen wurde. Verschiedene Gegenstände, mit denen Iken nichts anfangen konnte, waren darauf in sonderbarer Weise angeordnet. Aus einem Topf entnahm Rune getrockneten Beifuß und aus einem zweiten ein wenig Schlangenmoos. Er ging damit zu seinem ständig glimmenden Feuer in der Mitte des Raumes, setzte sich auf den Boden und bedeutete Iken, sich ein Stück hinter ihm ebenfalls niederzulassen.

      Nach endlos erscheinenden Minuten der Stille, in der nur das leise Knistern der Glut zu hören war, begann der Schamane mit unbekannten Silben Worte zu murmeln, deren Sinn sie nicht verstand. Eine scheinbar tonlose Aneinanderreihung, reglos von Rune gesprochen, und dennoch lag eine Spannung über dem Geschehen, die Iken zugleich unheimlich wie heilig erschien.

      Plötzlich und völlig unvermittelt warf Rune die Pflanzen in die Mitte der Glut. Ein scharfes Zischen durchschnitt die Stille und eine grelle Feuerzunge schlug empor. Für einen kurzen Moment war alles um sie herum hell erleuchtet. Und dann, genauso schnell wie alles gekommen war, war der Anblick vorbei. Die Glut jedoch war nicht mehr dieselbe: was vorher leicht orangerot vor sich hin geglommen hatte, war nun in ein wildes flackerndes Meer an Farben gewandet.

      "Also gut", sagte Rune und erhob sich.

      "Ich werde mir das Mädchen ansehen und dann die Stimmen befragen. Wir werden sehen."

      Deutlich hatte das Feuer gesprochen. Rune hatte bereits aus Ikens Schilderung Klarheit darüber erlangt, dass das Mädchen genau die Zeichen zeigte, die für eine spätere Schamanin unverzichtbar waren.

      Doch das Feuer verriet ihm noch mehr! Schicksalhaftes bahnte sich mit dem Mädchen an. Das bunte Farbenmeer offenbarte, dass er und viele andere eingebunden würden und dass es galt, keinen Fehler zu begehen. Aber hierüber wollte er Iken zunächst in Unkenntnis lassen. In scheinbarer Gleichgültigkeit bedeutete er ihr, dass die Unterredung nun vorerst zu Ende sei, und nachdem sie gegangen war, machte er sich auf, um das Kind bei seiner Arbeit und beim Spielen mit den Freunden zu beobachten und in ein unverfängliches Gespräch zu verwickeln. Er wollte so den Zugang zu ihrem Wesen gewinnen, den er für seine weiteren Schritte benötigte.

      Am nächsten Morgen verließ er das Dorf, um sich zur Befragung an seinen Kraftort zu begeben.

      Zuvor hatte er die Kleidungsstücke angelegt, die er immer dann anzuziehen pflegte, wenn er sich zu einer außergewöhnlichen Reise zurückzog. Sie waren Bestandteil seines Rituals und brachten ihn auch äußerlich in einen besonderen Zustand.

      Gesammelt und konzentriert, sich auf die heilige Handlung vorbereitend, hatte er Stück für Stück mit Bedacht in seine hageren, für einen Mann eher feingliedrigen Hände genommen und hatte sie sich übergestreift. Es dauerte längere Zeit, Minuten voller Bedachtsamkeit, in der er sich von Teil zu Teil zu verändern schien. Dann stand er da: sein Gewand aus Fellen, verschiedene, prächtige Fellstücke der unterschiedlichsten Tiere, darunter nackt, nur der Stein im weichem Hirschlederbeutel nah am Körper. Es war sein ovaler weißer Stein "Tondar", der ihn einst gerufen hatte, als er sich für viele Wochen in die Wälder zurückgezogen hatte. In einer Felsspalte hatte er ihn blinken sehen und hatte ihn unter Lebensgefahr zu sich geholt. Seitdem war er sein fester Begleiter, sein Ratgeber, sein Beschützer, der einzige, der ihn in die Anderswelt begleiten durfte.

      Er warf sein Obergewand um, das im Gegensatz zu seinem Fellgewand schlicht und unscheinbar war. Dann nahm er seine lederne Kopfbedeckung vom Haken. Sie war mit wilden Federn geschmückt, mit Holzklappern und Steinchen wirr behangen, damit sie bei jeder Kopfbewegung klangvoll aneinander stießen und er sich damit selbst in einen beliebigen Rhythmus tragen konnte.

      Als er sie mit den Händen griff, hielt er kurz inne: War er noch der gleiche, der, der gestern noch mit den fröhlich spielenden Kindern geulkt hatte? Der, der allmorgendlich seinen Wasserkessel zum Brunnen trug, um ihn aufzufüllen, um seinen Tee damit zu bereiten? Und der dabei die Leute des Dorfes mit frischen Sprüchen auf den Lippen zum Tagewerk anhielt? - Er lächelte. Wusste er doch und fühlte es bereits kraftvoll in sich: er hatte sich bereits mit dem Ankleiden ein stückweit von der Außenwelt getrennt und von der Person, wie sie von den anderen dort wahrgenommen wurde.

      Er faltete die Kopfbedeckung zusammen und legte sie an den dafür vorgesehenen Platz in seiner Felltasche, die mit Räucherwerk, Kräutern, verschiedensten Feuergewerken gefüllt war. Dann gürtete er die Tasche und legte als letztes sein Messer an, das er nur für seine ganz speziellen Rituale verwendete. Ein letztes Mal blickte er auf das Innere in seinem Zelt; er bat seine Helfer um Beistand, löschte das Feuer und drehte sich um. Weder Getränk noch Mahlzeit nahm er mit. Er klappte das Fell zur Seite und machte sich auf den Weg.

      Er verließ das Dorf in Richtung der aufgehenden Sonne. Erst weit später schlug er die eigentliche Richtung ein. Vorher jedoch drehte er sich zum Dorf um, zog auf der Erde mit einer Haselrute einen Kreis um sich und sprach einen Bann - er wollte sicher sein, dass ihm niemand folgte.

      Sein Ziel war ein Ort, den nur er kannte; sein geheimer Rückzugsort, den er bei wichtigen Fragen wie dieser aufsuchte. Ungewiss war, wie lange er fortbleiben würde - dies bestimmte nicht er selbst. Vielmehr lag alles Weitere in der Hand der Helfer, die