Jörg Meyer-Kossert, Andrea Meyer-Kossert
Der Fall der Irminsul
Eine schamanische Reise zum Herzen der alten Welt
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Inhaltsverzeichnis
1 Odo
753 n.d.Zw In einer großen Siedlung im alten Sachsenland
Bläulicher Qualm kroch aus den kleinen Feuerzungen unter dem Suppenkessel. Ein verführerischer Duft nach frisch gekochter Bohnensuppe mit Dinkel durchzog das Langhaus bis in seine letzten Winkel. Immer wieder sah Frigga* von ihrer Arbeit auf und blickte in das Feuer. Die Wintertage waren kurz, aber für Frigga schienen sie kein Ende zu nehmen. Auch die Arbeit, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, war nicht dazu angetan ihre Stimmung zu verbessern. Den ganzen Morgen über hatte sie die vielen nicht mehr frischen Bucheckern aus ihren spröden Hüllen befreit, und die harten Schalen hatten ihre Finger rot und schorfig werden lassen. Vier Familien lebten in ihrem Langhaus, wollten essen und trinken. Da war es selbstverständlich, dass auch die Kinder mithelfen mussten bei der täglichen Arbeit. Frigga wickelte gedankenverloren ihre rotblonden, widerspenstigen Locken um den Zeigefinger, um ihnen wenigstens etwas Form zu geben. Immer wieder vergaß sie die kleinen dreieckigen Früchte in den beiden Körben vor ihr und starrte ins Feuer. Wie kurze Messer sahen die zuckenden Flammen aus. Manchmal glaubte sie im Zusammenspiel ein Bild zu erkennen. Aber so schnell wie es gekommen war, so schnell löste es sich in einem zerfließenden Farbspiel wieder auf. Iken, ihre Mutter, warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Sie verstand, dass ihre jüngste Tochter sehnsüchtig auf die wärmere Jahreszeit wartete. Während sie selbst geschickt das hölzerne Schiffchen durch die Fäden des Webrahmens gleiten ließ, dachte sie daran, wie lieb ihr doch dieses eigensinnige Kind in der letzten Zeit geworden war. Für ihre elf Sommer, die sie jetzt zählte, hatte sie schon ein enormes Eigenleben entwickelt und ihre Eltern vor Probleme gestellt, die sie bei ihren anderen drei Kindern so nicht erlebt hatte. Aber Iken hatte auch bemerkt, dass Frigga ein Mädchen mit großem Herzen war. Und so hatte sie großzügig darüber hinweggesehen und im Stillen erhofft, dass aus ihr einmal eine eigenständige, selbstbewusste Frau werden würde, für die sich vielleicht ein angesehenerer Mann interessieren würde als es ihr Answin war. Langsam hatte sich eine innige Liebe zu diesem oft schwierigen Kind entwickelt.
Das ruhige Surren des Webschiffchens wurde regelmäßig vom dumpfen Stampfen des Stößels unterbrochen, mit dem Friggas Schwester Fastada mit gleichgültiger Miene auf das Getreide eindrosch.
Niemand sprach ein Wort. Alle hingen ihren Gedanken nach, die von der schweren und stickigen Luft im Haus eingehüllt wurden. Und so durchzog der monotone Rhythmus der arbeitenden Frauen das ganze Langhaus und ergriff nach und nach die Herrschaft über die anwesenden Menschen.
Frigga konnte ihren Blick nicht von den lodernden Flammen abwenden, zu sehr faszinierte sie das Spiel des Feuers - wie die flackernde Glut es leuchtend rot von sich stieß, die Hitze mit empor reißend, und mit bläulichem Schein sich in den Rauchfang verflüchtigte.
Wie die Geweihenden eines Kronhirsches sprossen die Flammen dem Kessel jetzt entgegen. Sie züngelten um ihn herum als wenn sie ihn mit ihrer Hitze schmelzen wollten. Hingerissen vom Farbenspiel der rötlichen Zungen wähnte sich Frigga bereits inmitten des brennenden Feuermeeres zu stehen. Während sie noch in die die heiße Lohe starrte, fügte sich dem flammenden Geweih des Hirschen ein flüchtendes Tier hinzu - und dann zerfloss alles wieder, kaum dass Frigga in die angsterfüllten Augen dieses herrlichen Tieres geblickt hatte. Flüchtete der Hirsch vor den Flammen? Frigga konnte nicht mehr wegsehen. Der Zauber des Feuers hielt sie fest im Griff.
Plötzlich warfen die Flammen ihr rennende Beine entgegen, nein, es waren Männer, die sie sah.
Der Rhythmus im Haus entließ sie nicht aus seiner Gewalt. Wie gebannt starrte Frigga in das Feuer. Träumte sie?
Sie wollte sich kneifen, aber die Finger griffen ins Leere. Immer tiefer drang ihr Blick jetzt in das Feuer ein. Schon lief sie mit den Männern im Wald, setzte gemeinsam mit ihnen über querliegende Äste hinweg und musste ständig vor auftauchenden Bäumen ausweichen. Die Männer schienen sie nicht zu bemerken. Sie hetzten nur weiter. Pfeile flogen, zwei stürzten. Aber die Gesichter blieben verschwommen. Schreie tönten durch den Wald. Neben ihr tauchten drei Männer auf, die offensichtlich zu ihrem Stamm gehörten. Sie trugen einen Eibenzweig auf dem Arm gemalt. Und dann erfasste ein eisiger Wind ihre Haare.
Friggas unterdrückter Aufschrei endete in einem Gewürge. Iken sah aufgeschreckt zu ihr hinüber.
"Odo, du musst kommen", rief jemand hinter ihr.
"Schnell !"
Frigga blickte sich erschrocken um. Die Tür des Langhauses war aufgestoßen worden. Der Wind war herein gefegt und mit ihm zwei erregte Männer. Von einem Augenblick auf den anderen war die Ruhe und Gleichmütigkeit dahin. Das Webschiffchen ruhte und auch der Stößel in Fastadas Hand legte eine Pause ein.
Alle blickten unmutig wegen der Unterbrechung zum Eingang.
Mürrisch richtete sich Odo auf seiner Liegestatt auf.
"Was kann an einem solchen Tag denn schon so wichtig sein!"
Er reckte sich und erwartete eine Antwort. Die Bestürzung in den Augen der Männer drang nur langsam zu ihm vor. Der eiskalte Wind erfasste mittlerweile auch den letzten Winkel des Raumes und vertrieb die mühsam erzeugte Wärme des Feuers. Odo blickte noch unwilliger. Die Ankömmlinge registrierten die ablehnende Haltung der Hausbewohner und versuchten es jetzt mit einer offiziellen Meldung.
"Mein Fürst! Wir hatten einen Zusammenstoß mit den Flussmenschen im Eibenwald. Drei von ihnen sind jetzt tot. Der Rest ist entkommen."
Erstarrung machte sich breit. Alle Augen richteten sich in gespannter Erwartung auf die beiden Boten.
Odo schien auf einmal schneller wach zu werden als ihm lieb war. Im Nu stand er auf seinen Beinen.
"Haben sie euch angegriffen?"
"Nein. Aber sie haben