Die Atomen-Welt des Demokrit stellt eine Außenwelt, eine Natur dar, in welcher nichts von »Seele« lebt. Die Gedanken-Erlebnisse in der Seele, durch deren Geburt die Menschenseele auf sich selbst aufmerksam geworden ist: bei Demokrit sind sie bloße Schatten-Erlebnisse.
Damit ist ein Teil des Schicksals der Gedanken-Erlebnisse gekennzeichnet. Sie bringen die Menschenseele zum Bewusstsein ihres eigenen Wesens, aber sie erfüllen sie zugleich mit Ungewissheit über sich selbst. Die Seele erlebt sich durch den Gedanken in sich selbst, aber sie kann sich zugleich losgerissen fühlen von der geistigen, von ihr unabhängigen Weltmacht, die ihr Sicherheit und inneren Halt gibt.
So losgebunden in der Seele fühlten sich diejenigen Persönlichkeiten, welchen man innerhalb des griechischen Geisteslebens den Namen »Sophisten« gibt. Die bedeutendste in ihren Reihen ist Protagoras (von Abdera um 480-410 v. Chr.). Neben ihm kommen in Betracht: Gorgias, Kritias, Hippias, Trasymachus, Prodikus. Die Sophisten werden oftmals als Menschen hingestellt, die mit dem Denken ein oberflächliches Spiel getrieben haben. Viel hat zu dieser Meinung die Art beigetragen, wie sie der Lustspieldichter Aristophanes behandelt hat. Es kommt aber, neben vielem anderen, schon als äußerlicher Grund zu einer besseren Würdigung zum Beispiel in Betracht, dass selbst Sokrates, der sich in gewissen Grenzen als Schüler des Prodikus fühlte, diesen als einen Mann bezeichnet haben soll, der für die Veredelung der Sprache und des Denkens bei seinen Schülern gut gewirkt hat.
Protagoras‹ Anschauung erscheint in dem berühmten Satz ausgesprochen: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind.« In der Gesinnung, welche diesem Satz zugrunde liegt, fühlt sich das Gedanken-Erlebnis souverän. Einen Zusammenhang mit einer objektiven Weltenmacht empfindet es nicht. Wenn Parmenides meint: Die Sinne geben dem Menschen eine Welt der Täuschung, – man könnte noch weiter gehen und hinzufügen: Warum sollte das Denken, das man zwar erlebt, nicht auch täuschen? Doch Protagoras würde erwidern: Was kann es den Menschen bekümmern, ob die Welt außer ihm anders ist, als er sie wahrnimmt und denkt? Stellt er sie denn für jemand anderen als für sich vor? Mag sie für ein anderes Wesen sein wie immer, der Mensch braucht sich darüber keine Sorge zu machen. Seine Vorstellungen sollen doch nur ihm dienen; er soll mit ihrer Hilfe seinen Weg in der Welt finden. Er kann, wenn er sich völlig klar über sich wird, keine anderen Vorstellungen über die Welt haben wollen als solche, welche ihm dienen. Protagoras will auf das Denken bauen können; dazu stützt er es lediglich auf dessen eigene Machtvollkommenheit.
Damit aber setzt sich Protagoras in gewisser Beziehung in Widerspruch mit dem Geiste, der in den Tiefen des Griechentums lebt. Dieser »Geist« ist deutlich vernehmbar innerhalb des griechischen Wesens. Er spricht bereits aus der Aufschrift des delphischen Tempels »Erkenne dich selbst«. Diese alte Orakelweisheit spricht so, als ob sie die Aufforderung enthielte zu dem Weltanschauungsfortschritt, der sich aus dem Bildervorstellen zu dem gedanklichen Ergreifen der Weltgeheimnisse vollzieht.
Es ist durch diese Aufforderung der Mensch hingewiesen auf die eigene Seele. Es wird ihm gesagt, dass er in ihr die Sprache vernehmen könne, durch welche die Welt ihr Wesen ausspricht. Aber es wird damit auch auf etwas verwiesen, was in seinem eigenen Erleben sich Ungewissheiten und Unsicherheiten erzeugt. Die Geister innerhalb Griechenlands sollten die Gefahren dieses sich auf sich selbst stützenden Seelenlebens besiegen. So sollten sie den Gedanken in der Seele zur Weltanschauung ausgestalten.
Die Sophisten sind dabei in ein gefährliches Fahrwasser geraten. In ihnen stellt sich der Geist des Griechentums wie an einen Abgrund; er will sich die Kraft des Gleichgewichts durch seine eigene Macht geben. Man sollte, wie schon angedeutet worden ist, mehr auf den Ernst dieses Versuches und auf seine Kühnheit blicken, als ihn leichthin anklagen, wenn auch die Anklage für viele der Sophisten gewiss berechtigt ist. Doch stellt sich dieser Versuch naturgemäß in das griechische Leben an einem Wendepunkte hinein.
Protagoras lebte um 480-410 v. Chr. Der Peloponnesische Krieg, der an dem Wendepunkte des griechischen Lebens steht, fand statt von 431-404 v. Chr. Vorher war in Griechenland der einzelne Mensch fest in die sozialen Zusammenhänge eingeschlossen; die Gemeinwesen und die Tradition gaben ihm den Maßstab für sein Handeln und Denken ab. Die einzelne Persönlichkeit hatte nur als Glied des Ganzen Wert und Bedeutung. Unter solchen Verhältnissen konnte noch nicht die Frage gestellt werden: Was ist der einzelne Mensch wert? Die Sophistik stellt diese Frage, und sie macht damit den Schritt zu der griechischen Aufklärung hin. Es ist doch im Grunde die Frage: Wie richtet sich der Mensch sein Leben ein, nachdem er sich des erwachten Gedankenlebens bewusst geworden ist? Von Pherekydes (oder Thales) bis zu den Sophisten ist in Griechenland innerhalb der Weltanschauungsentwicklung das allmähliche Einleben des schon vor diesen Persönlichkeiten geborenen Gedankens zu beobachten. An ihnen zeigt sich, wie der Gedanke wirkt, wenn er in den Dienst der Weltanschauung gestellt wird. Doch ist diese Geburt in der ganzen Breite des griechischen Lebens zu bemerken. Die Weltanschauung ist nur ein Gebiet, auf dem sich eine allgemeine Lebenserscheinung in einem besonderen Falle auslebt. Man könnte eine ganz ähnliche Entwicklungsströmung auf den Gebieten der Kunst, der Dichtung, des öffentlichen Lebens, der verschiedenen Gebiete des Handwerks, des Verkehrs nachweisen. Diese Betrachtung würde überall zeigen, wie die menschliche Wirksamkeit eine andere wird unter dem Einfluss derjenigen Organisation des Menschen, die in die Weltanschauung den Gedanken einführt. Die Weltanschauung »entdeckt« nicht etwa den Gedanken, sie entsteht vielmehr dadurch, dass sie sich des geborenen Gedankenlebens zum Aufbau eines Weltbildes bedient, das vorher aus anderen Erlebnissen sich gebildet hat.
Kann man von den Sophisten sagen, dass sie den Geist des Griechentums an eine gefährliche Klippe brachten, der sich in dem »Erkenne dich selbst« ausdrückt, so muss in Sokrates eine Persönlichkeit gesehen werden, welche diesen Geist mit einem hohen Grade von Vollkommenheit zum Ausdruck brachte. Sokrates ist in Athen um 470 geboren und wurde 399 v. Chr. zum Tode durch Gift verurteilt.
Geschichtlich steht Sokrates durch zwei Überlieferungen vor dem Betrachter. Einmal in der Gestalt, die sein großer Schüler Plato (427-347 v. Chr.) gezeichnet hat. Plato stellt seine Weltanschauung in Gesprächsform dar. Und Sokrates tritt in diesen »Gesprächen« lehrend auf. Da erscheint dieser als »der Weise«, der die Personen seiner Umgebung durch seine geistige Führung zu hohen Erkenntnisstufen geleitet. Ein zweites Bild hat Xenophon in seinen »Erinnerungen« an Sokrates gezeichnet. Zunächst erscheint es, als ob Plato das Wesen des Sokrates idealisiert, Xenophon mehr der unmittelbaren Wirklichkeit nachgezeichnet hätte. Eine mehr in die Sache eingehende Betrachtung könnte wohl finden, dass Plato sowohl wie Xenophon, ein jeder von Sokrates das Bild zeichnen, das sie nach ihrem besonderen Gesichtspunkte empfangen haben, und dass man daher ins Auge fassen darf, inwiefern die beiden sich ergänzen und gegenseitig beleuchten.
Bedeutungsvoll muss zunächst erscheinen, dass des Sokrates Weltanschauung völlig als ein Ausdruck seiner Persönlichkeit, des Grundcharakters seines Seelenlebens auf die Nachwelt gekommen ist.
Sowohl Plato wie Xenophon stellen Sokrates so dar, dass man den Eindruck hat: in ihm spricht überall seine persönliche Meinung; aber die Persönlichkeit trägt das Bewusstsein in sich: Wer seine persönliche Meinung aus den rechten Gründen der Seele herausspricht, der spricht etwas aus, was mehr ist als Menschenmeinung, was ein Ausdruck ist der Absichten der Weltordnung durch das menschliche Denken. Sokrates wird von denen, die ihn zu kennen glauben, so aufgenommen, dass er ein Beweis dafür ist: in der Menschenseele kommt denkend die Wahrheit zustande, wenn diese Menschenseele mit ihrem Grundwesen so verbunden ist, wie es bei Sokrates der Fall war. Indem Plato auf Sokrates blickt, trägt er nicht eine Lehre vor, die durch Nachdenken »festgestellt« wird, sondern er lässt einen im rechten Sinne entwickelten Menschen sprechen und beobachtet, was dieser als Wahrheit hervorbringt. So wird die Art, wie sich Plato zu Sokrates verhält, zu einem Ausdruck dafür, was der Mensch in seinem Verhältnis zur Welt ist. Nicht allein das ist bedeutsam, was Plato über Sokrates vorgebracht hat, sondern das, wie er in seinem schriftstellerischen Verhalten Sokrates in die Welt des griechischen Geisteslebens hineingestellt hat.
Mit der Geburt des