Er steht und wartet und lauscht. Im Schein der Gaslaterne liegt vor ihm die lange, altvertraute Mauer mit den Glassplittern, das Eisentor – es hat sich nichts verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen ist, soviel sich in Deutschland unterdes auch verändert haben soll.
Plötzlich kommt ihm ein Gedanke: Es ist doch alles genauso wie damals, an jenem grauen Novembermorgen, als die Monteure hier vor der Fabrik standen, die entlassenen, die arbeitslosen, daß es ihm nicht einmal aufgefallen ist, daß jenes Plakat noch immer an dem Eisentürchen klebt.
Erst allmählich wird ihm klar, eine wie lange Zeit seit jenem Novembermorgen vergangen ist, daß unmöglich noch der gleiche Aushang an der Eisentür haften kann.
Er tritt näher, er brennt ein Streichholz an, er liest: »Arbeiter – auch ungelernte, auch Frauen – stellt laufend ein: Eisenwarenfabrik Hermann Wiebe«.
Etwas wie Rührung überkommt ihn: Es ist also doch anders geworden, es ist besser geworden! Während sich drüben im Gelobten Land die Arbeiter vor den Fabriktoren um einen »Job« prügeln, laufen die Maschinen wieder in Vaters Werk! Und er ist ein Narr gewesen – er hat draußen bei Fremden um Arbeit gebettelt, während er im eigenen mit hätte schaffen können!
Oh, was für ein Narr er gewesen ist! Aber er wird sich ändern! Er wird mitarbeiten, er wird nicht empfindlich gegen die spöttische Überlegenheit des Bruders sein, der eben doch der Tüchtigere, der Erfolgreichere ist! Denn er hat das Werk wieder in Gang gesetzt, während Johannes Wiebe nicht einmal sich selbst in Gang setzen konnte!
Liebevoll streicht er über das Plakat, es ist doch gut, so heimzukommen!
Und nun hört er den Schlürfeschritt des Wächters, ja, es ist noch immer der alte Schritt des alten Lobrian, der in viel zu großen Gummistiefeln über den Hof schlürft!
»Lobrian«, ruft er halblaut, und sofort schlägt Bella wütend an, auch Bellas Bellen würde Johannes aus hundert bellenden Hunden heraushören.
»Wer issn da?« fragt Lobrian sofort entrüstet. »Hier kommt jetzt keiner rein!«
»Lobrian – Johannes Wiebe! Der junge Herr!«
Einen Augenblick ist tiefe Stille. Dann heult erst Bella auf, Johannes sieht sie förmlich sitzen, auf den Hinterkeulen, das Maul weit aufgerissen, wie sie den Mond anheult oder Glockenläuten, wie sie eben heult, wenn die Gefühle sie so überwältigen, daß sie nicht weiß, ob sie Freude oder Schmerz empfindet.
Und dann ruft der alte Lobrian mit einem ganz ähnlich heulenden Ton in der Stimme: »Gott, der junge Herr! Ick komme ja schon, ick such ja schon den Schlüssel, junger Herr! – Bella, hab dir nich so dußlig, reiß mir nich um! Es ist der junge Herr, ja doch, du elende Töle – mach doch nicht ganz Charlottenburg wach!«
Und nun, da der junge Wiebe eingetreten ist: »Junger Herr, nee, det ick det noch erlebe! Det Se zu meene Tür rinkommen! So ’ne Ehre! Gerade, wo Se rausgegangen sind! Wissen Se noch? Damals war Ihnen een bißken plümerant, und ick hab Sie noch jesagt, wat oben is kommt nach unten. Wat, hat jestimmt, junger Herr, hat et jestimmt oder nich? Jetzt sind wir oben, und die drüben jehn stempeln – bloß det se nicht mal stempeln jehn dürfen! Und nun sind Se wieder da!«
»Ja, nun bin ich wieder da, Lobrian!«
Ja, so etwas ist Heimkehr, Johannes ist ganz überwältigt. Er hätte nie gedacht, daß der alte Mann so warm für ihn empfinden könnte. So warm hatte in all der Zeit draußen kein Mensch mit ihm gesprochen! Er hatte dem Lobrian doch nie etwas besonders Gutes erwiesen, war nicht herzlicher zu ihm gewesen als zu allen anderen. Er war gewissermaßen ein selbstverständliches Erbstück vom Vater her, immer herummümmelnd, immer über die Unordnung der Arbeiter schimpfend, die Kisten auf dem Hof stehenließen, über die er dann in der Dunkelheit stolperte – und nun so!
»Freuen Sie sich denn wirklich so, Lobrian? Es ist ja gut, ja, nun bin ich wieder zu Haus. Und Bella – ja, nun laß es aber gut sein. Du machst mich ja ganz dreckig! Und wie geht es jetzt? Ihr stellt Arbeiter ein?«
»Arbeit jenug, vill zu ville – aber ick weeß nich, nee, in de erste Stunde will ick Se nich vermiesen, junger Herr! Sie wern schon selber hörn!«
»Immer die bösen Löhne, was, Lobrian?«
»Ach, mit die Löhne, det jeht ja jetzt, det is ja alles festjelecht, da kann er nich bei meckern. Aber so, was sein Ton is – und überhaupt …«
»Wessen Ton?«
»Na, Sie wissen doch, junger Herr, Sie müssen doch als erster Bescheid wissen. Se sagen doch alle, er hat Ihnen ooch rausjegrault …«
»Mein Bruder?«
»Nee, junger Herr, det mach ick nich, Namen nenn ick nich. Ick bin zu alt, mir de Fresse zu verbrennen. Aber ick sare imma: Laßt ihn man so weiter toben, er wird schon sehen, wie lang er’s treibt. Heut is nich mehr einst, und een Arbeeter is keen Schuhwisch mehr …«
Es war dem Johannes Wiebe gar nicht lieb, daß die ersten Nachrichten aus der Heimat gerade den ungeliebten Bruder betrafen und daß sie nicht gut waren. Er wollte nichts mehr davon hören, diese Klagen begegneten sich zu gut mit Klagen in seiner eigenen Brust.
Er fragte: »Und meine Mutter – sie ist doch zu Haus?«
»Weeß ick nich, junger Herr«, antwortete Lobrian ein wenig gekränkt, daß seine Beschwerden so wenig Widerhall fanden. »Wat in der Villa passiert, davon hab ick keene Ahnung. Ich red doch nie mit ’nem Menschen ein Wort. Aber ick hab so wat jehört, die Frau Mutter is wechjereist …«
»Na, dann werde ich selbst nachsehen müssen. Gute Nacht, Lobrian, morgen sprechen wir uns wieder.«
Damit geht Johannes Wiebe rasch über die Fabrikhöfe, klinkt in der Mauer, die den herrschaftlichen Garten von dem Fabrikgrundstück trennt, das Pförtchen auf und geht nun rasch und möglichst vorsichtig über den leise knirschenden Kies der Villa zu, die dunkel und massig zwischen Bäumen und Büschen vor ihm aufsteigt.
Er ärgert sich, daß die gute Stimmung, die ihn am Fabriktor überkam, schon wieder verflogen ist. Lobrian ist eine gute Seele, gewiß, aber das mit seinem Bruder hätte er ihm auch nicht gleich versetzen müssen. Und nun soll die Mutter nicht einmal zu Haus sein, so daß er ganz allein von gerade diesem Bruder bewillkommt würde, ein lächerliches Köfferchen in der Hand, in einem Anzug, der jetzt bestimmt die Spuren von Bellas stürmischer Begrüßung trug.
Er steht vor der Villa und sieht zögernd zu ihr auf. Kein Licht brennt, ja, es ist nun schon fast zwei Uhr geworden, alle schlafen, wer nun eben im Haus sein mag. Er wird klingeln müssen. Der Gedanke, daß ihm vielleicht irgendein ganz unbekanntes Hausmädchen öffnen wird, dem er erst auseinandersetzen muß, daß er der Sohn des Hauses ist, die ihm vielleicht nicht einmal Glauben schenkt, sondern vor der Tür der Villa stehenläßt, bis sie den Bruder geweckt hat – das macht ihn so unschlüssig! Er steht auf der Auffahrt, hat die Hand zur Klingel erhoben und wagt doch nicht zu klingeln.
Da zittert ein Lichtschein über diese Hand, über die Klingel, über die Hausfassade. Das Summen eines Motors wird vernehmbar – rasch tritt Johannes Wiebe in den dunkelsten Schatten hinter einen der Oleanderkübel. Vielleicht ist es die Mutter, die von ihrer Reise zurückkehrt! Das wäre schön!
Aber es ist der Bruder, der aus dem Wagen steigt. Ganz nahe sieht Johannes im Halbdunkeln die vertraute Gestalt, die ihm noch fetter geworden scheint. Der Bruder klappert mit Geld, wortlos, der Taxichauffeur sagt auch nichts, sondern fährt sofort wieder ab.
›Also ist er noch immer nicht üppiger mit Trinkgeldern geworden‹, denkt Johannes Wiebe, der sich oft über die kleinliche Knauserei ebendieses Bruders geärgert hat, dem Geld für die Bedürfnisse der eigenen Person nie knapp war.
Nun klappert der Bruder mit Schlüsseln. Johannes kann sein Gesicht nicht erkennen, aber er merkt schon, der Bruder hat trotz seiner aufrechten Haltung schwer geladen. Er merkt es an dem Schnaufen des Verfetteten, er hört es aus den leisen Flüchen, die des Bruders Versuche begleiten, den Schlüssel ins Schloß zu führen.