Erhard Schümmelfeder
Das Klingeln des Telefons am Abend
Eine Novelle aus 12 Tönen
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Inhaltsverzeichnis
E
Das Klingeln des Telefons am Morgen erinnerte Martin Sand daran, dass in diesem Augenblick ein Mensch auf der Welt an ihn dachte. Seine Hoffnung, Isabell würde ihn anrufen, blieb unerfüllt, als er am anderen Ende der Leitung die Stimme von Nigel Klein erkannte. „Falsch verbunden“, murmelte er nur und legte den Hörer zurück auf die Gabel. Ein Gefühl des Unbehagens regte sich in ihm. Er rechtfertigte sich vor sich selbst, weil er sich nicht auf ein Gespräch mit dem Langweiler Nigel eingelassen hatte. Man wird ihn nicht wieder los, dachte er. Irgendwo am anderen Ende der Stadt wohnte Nigel, der sich auffällig oft in sein Leben drängte, was manchmal etwas lästig, aber längst kein Problem war. Ein Problem war die Sache mit Isabell: Ihre Anrufe während der zurückliegenden zwei Wochen, die er im Ferien-Camp verbracht hatte, ließen es deutlich werden: Irgend etwas hatte sie verstört. Aber was? Er wusste es nicht.
Er ging ins Wohnzimmer und ließ sich in den Fernsehsessel fallen. Mit der Fernbedienung schaltete er den Fernseher ein, reduzierte die Lautstärke und lauschte gespannt nach dem schrillen Klingelton des Telefons auf dem Flurtisch. Dieser verrückte Nigel, dachte er kopfschüttelnd. Was wollte er nur?
Auf dem Bildschirm huschten die Bilder und Geräusche einer Filmcollage vorbei, ohne ihn zu fesseln: Knatternde Maschinengewehre im Schützengraben. Ein Seiltänzer mit rotem Regenschirm. Sich aufbäumende Pferde in der Prärie; eine Rockband zertrümmerte vor johlendem Publikum ihre Instrumente auf der Bühne. - Nachrichten. Das Wetter von morgen: Trocken, sonnig.
Nach einer Weile blieb das Telefon stumm. Endlich, dachte er nur. Er ging in den Flur und wählte kurzerhand Isabells Nummer. Das Freizeichen war zu hören. Also empfing sie seinen Anruf. Warum nahm sie das Gespräch nicht an? Hatten sie plötzlich Probleme? Nein, sagte er sich, eigentlich nicht. Waren ihr seine Anrufe mit einem Mal vielleicht lästig? – Schließlich legte er wieder auf.
Ein anderes Geräusch ließ ihn aufhorchen: Wie ein Schellenkranz in der Kirche klang das Schlüsselbund seiner Mutter; er hörte ihr heiteres Lachen, dann die Stimme seines Bruders. Die Tür des Wohnzimmers öffnete sich, und seine Mutter fragte:
„Noch müde, Martin?“
„Nein“, antwortete er. „Ich bin ausgeschlafen. Wo wart ihr zwei?“
„Auf den Feldwegen“, erwiderte sie. „Ich habe Vincent etwas Fahrunterricht erteilt.“
„Fahren ohne Führerschein ist strafbar“, erinnerte er sie.
„Ich weiß“, sagte seine Mutter. „Aber wenn du uns nicht verpfeifst, bleibt die kleine Verfehlung in der Familie. - Übrigens hatten wir einen Unfall.“
„Schlimm?“
„Schlimm genug. Wir haben eine Schnecke mitsamt Haus überfahren. Schreckliches Geräusch. Ich höre es jetzt noch knacken.“
Vincent kam ins Zimmer, nahm die Fernsehzeitung vom Tisch und blätterte darin. Er sagte: „Vergiss nicht zu erwähnen, wer am Steuer saß, als die Schnecke ihr Leben aushauchte.“
Seine Mutter presste die Lippen aufeinander, nickte nur und wandte sich um. Vom Flurfenster aus, wo sie die Blumen goss, rief sie: „Vor einer Stunde hattest du einen Anruf, Martin.“
„Von wem?“, fragte er und reichte Vincent die Fernbedienung. Er dachte sofort: Vielleicht hat Isabell angerufen.
„Von einem Jungen.“
„Ein Junge? Wer war es?“
„Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen.“
„Was wollte er denn von mir?“
„Es geht um Musik.“
„Das konnte nur Leader sein“, überlegte Martin.
„Nein“, widersprach seine Mutter näherkommend. „Es war nicht Leader. Auch kein anderes Bandmitglied. Es war ein Junge, der bei dir Gitarrenunterricht nehmen möchte.“
„O Gott“, entfuhr es ihm. „Dann war es Nigel. Wenn er noch einmal anruft, kannst du ihn abwimmeln.“
„Warum sollte ich den netten Jungen abwimmeln?“
„Weil er keinen Funken Talent besitzt, deshalb.“
„Werde