Als nun die grauen Ratten so gewissenhaft die ganze Burg durchsucht hatten, fühlten sie sich beruhigt. Sie begriffen, daß die schwarzen Ratten geflüchtet waren und nicht daran dachten, sich zur Gegenwehr zu setzen, und leichten Herzens liefen sie in die Kornhaufen hinauf.
Kaum aber hatten sie die ersten Weizenkörner heruntergeschluckt, als sie unten vom Burghof her gellende Töne aus einer kleinen, schrillen Flöte vernahmen. Sie erhoben ihre Köpfe vom Korn, lauschten unruhig, liefen einige Schritte, als wollten sie den Futterhaufen verlassen, wandten sich aber wieder um und begannen von neuem zu fressen.
Abermals erschallte die Flöte laut und gellend, und nun geschah etwas Merkwürdiges. Eine Ratte, zwei Ratten, ja eine Menge Ratten sprangen von den Haufen herunter, ließen das Korn liegen und eilten auf dem kürzesten Wege in den Keller hinab, um aus dem Hause zu gelangen. Es waren aber noch viele graue Ratten zurückgeblieben. Sie dachten daran, welch eine große Mühe es sie gekostet hatte, Glimminghaus zu erobern, und sie wollten es nicht verlassen. Aber noch einmal drangen die Töne der Flöte bis zu ihnen, und sie mußten folgen. In wilder Hast stürzten sie von den Haufen herunter, ließen sich durch die engen Kanäle in den Mauern gleiten und taumelten übereinander in ihrem Eifer, hinauszugelangen.
Mitten auf dem Burghof stand ein kleiner Knirps und blies auf der Flöte. Er hatte schon einen ganzen Kreis von Ratten um sich gesammelt, die erstaunt und verzaubert seinen Tönen lauschten, und jeden Augenblick kamen mehr hinzu. Einmal nahm er nur eine Sekunde die Flöte vom Munde, um den Ratten eine lange Nase machen zu können, und da sah es aus, als hätten sie Lust, sich über ihn zu stürzen und ihn totzubeißen. Aber sobald er blies, waren sie seiner Macht untertan.
Als der Knirps alle Ratten aus Glimminghaus herausgespielt hatte, begab er sich langsam vom Hofplatz auf die Landstraße hinaus, und alle grauen Ratten folgten ihm, weil die Töne seiner Flöte so süß in ihren Ohren klangen, daß sie ihnen nicht zu widerstehen vermochten.
Der Knirps ging voran und lockte sie den Weg nach Valby entlang. In allen möglichen Kreisen und Windungen und auf allen möglichen Umwegen führte er sie durch Hecken und in Gräben hinab, und wo er ging, mußten sie ihm folgen. Er blies unaufhörlich auf seiner Flöte, die aus einem Tierhorn gemacht zu sein schien. Aber das Horn war so klein, daß es heutigentags kein Tier gibt, dessen Stirn es entrissen sein könnte. Es wußte auch niemand, wer es verfertigt hatte. Flammea, die Turmeule, hatte es in einer Nische in dem Turm des Domes von Lund gefunden. Sie hatte es Bataki, dem Raben, gezeigt, und die beiden hatten ergründet, daß es so ein Horn war, wie es in alten Zeiten von denen gemacht wurde, die sich Gewalt über Ratten und Mäuse verschaffen wollten. Der Rabe aber war Akkas Freund, und von ihm hatte sie erfahren, daß Flammea im Besitze eines solchen Schatzes war.
Und es verhielt sich wirklich so, daß die Ratten der Flöte nicht widerstehen konnten. Der Junge ging voran und spielte, solange die Sterne schimmerten, und sie folgten ihm die ganze Zeit. Er spielte bei Tagesgrauen, er spielte bei Sonnenaufgang, und immer folgte ihm die ganze Schar der grauen Ratten und wurde immer weiter von den großen Kornböden in Glimminghaus fortgelockt.
V. Der große Kranichtanz auf dem Kullaberge
Dienstag, den 29. März.
Man muß einräumen, daß, obwohl viele prachtvolle Gebäude in Schonen errichtet sind, doch keines von ihnen allen so schöne Mauern hat wie der alte Kullaberg.
Der Kullaberg ist niedrig und langgestreckt. Er ist keineswegs ein großer oder gewaltiger Berg. Auf dem breiten Bergrücken liegen Wälder und Felder und hin und wieder eine Heide. Hier und da ragen runde Heidehügel und nackte Bergkuppen auf. Es ist nicht sonderlich schön dort oben, es sieht dort so aus wie an allen andern hochgelegenen Orten in Schonen.
Wer die Landstraße entlang geht, die mitten über den Berg führt, kann nicht umhin, sich ein klein wenig enttäuscht zu fühlen.
Aber dann biegt er am Ende zufällig vom Wege ab und geht an die Seiten des Berges hinaus und sieht an dem Abhang hinab, und dann entdeckt er plötzlich so viel, was des Sehens wert ist, daß er kaum weiß, woher er die Zeit nehmen soll, es alles zu sehen. Denn die Sache ist die, daß der Kullaberg nicht im Lande liegt mit Ebenen und Tälern rings umher wie andere Berge, sondern er hat sich ins Meer hinausgestürzt, so weit er kommen konnte. Nicht der geringste Streifen Landes liegt am Fuße des Berges und beschützt ihn gegen die Wellen des Meeres, nein, sie gelangen bis ganz an die Bergwände hinan und können sie nach ihrem Gutdünken abschleißen und formen.
Deswegen stehen die Bergwände dort so reichgeschmückt, wie es das Meer und sein Gehilfe, der Wind, nur zu tun vermochten. Da sind steile Schluchten, die tief in die Seiten des Berges eingeschnitten sind, und schwarze Felsklippen, die blank geschliffen sind von dem ständigen Peitschenschlag des Windes. Da sind einsame Steinsäulen, die sich kerzengerade aus dem Wasser erheben, und dunkle Grotten mit engem Eingang. Da sind lotrechte, nackte Felswände und Abhänge mit freundlichen Laubwäldern. Da sind kleine Landzungen und kleine Buchten mit kleinen Rollsteinen, die mit jedem Wellenschlag rasselnd auf und nieder gespült werden. Da sind stattliche Klippentore, die sich über dem Wasser wölben; da sind spitze Steine, die unaufhörlich von weißem Schaum überspritzt werden, und andere, die sich in schwarzgrünem, unveränderlich stillem Wasser spiegeln. Da sind Riesenkessel, die in die Felsklippen hineingegraben sind, und mächtige Spalte, die den Wandersmann locken, sich in die Tiefe des Berges bis in Kullamanns Höhle hineinzuwagen.
Auf und ab an allen diesen Schluchten und Klippen klettern und kriechen Ranken und Schlingpflanzen. Bäume wachsen dort auch, aber die Macht des Windes ist so groß, daß sich selbst die Bäume in Schlingpflanzen verwandeln müssen, um sich an den Abhängen festhalten zu können. Die Eichen liegen und kriechen an der Erde, während das Laub über ihnen steht wie eine gedrängte Wölbung, und niedrigstämmige Buchen stehen in den Schluchten gleich großen Laubzelten.
Diese eigentümlichen Bergwände im Verein mit dem breiten, blauen Meer da draußen und der sonnenzitternden, starken Luft darüber machen den Kullaberg den Menschen so lieb, daß große Scharen von ihnen jeden Tag, so lange der Sommer währt, dahinaufziehen. Schwieriger ist es wohl, zu sagen, was den Berg so anziehend für die Tiere macht, daß sie sich jedes Jahr dort zu einer großen Spielversammlung scharen. Aber das ist eine Sitte, der sie seit Olyms Zeiten gefolgt sind, und man hätte schon mit dabei sein müssen, als die erste Welle an dem Kullaberg zu Schaum zerschellte, um erklären zu können, warum gerade er vor allen andern Orten zum Stelldichein gewählt wurde.
Wenn die Zeit zur Versammlung da ist, legen die Kronhirsche, die Rehe, die Hasen, die Füchse und die andern wilden, vierfüßigen Tiere schon in der Nacht die Reise nach Kullaberg zurück, um nicht von den Menschen gesehen zu werden. Kurz ehe die Sonne aufgeht, ziehen sie alle auf den Spielplatz, eine Heide links vom Wege, nicht weit von der äußersten Landzunge des Berges.
Der Spielplatz ist auf allen Seiten von runden Felshöhlen umgeben, die ihn vor jedem verbergen, der nicht zufällig ganz hineingelangt. Und im März ist es nicht wahrscheinlich, daß sich ein Wandersmann dahin verirrt. Alle die Fremden, die sonst auf den Hügeln umherstreifen und an den Bergwänden in die Höhe klettern, sind schon vor vielen Monaten in die Flucht gejagt worden. Und der Leuchtturmwärter draußen auf der Landzunge, die alte Frau in Kullahof und der Kullabauer und seine Leute gehen ihre gewohnten Wege und laufen nicht auf den einsamen Heideflächen umher.
Wenn die Tiere auf den Spielplatz gekommen sind, lassen sie sich auf den runden Bergkuppen nieder. Jede Tierart hält sich für sich, obwohl naturgemäß an einem solchen Tage allgemeiner Friede herrscht, so daß niemand einen Überfall zu befürchten braucht. An diesem Tage könnte ein kleines junges Häslein über den Hügel der Füchse laufen, ohne auch nur eines seiner langen Ohren einzubüßen. Aber trotzdem