Aber auf einmal hielt sie mit ihrer Untersuchung inne und schlug die Augen nieder, denn sie merkte, daß alle im Zelt sie ansahen. Söderberg mußte etwas von ihr erzählt haben, denn sowohl die Lappen als auch die Lappenfrauen nahmen ihre kurzen Tabakpfeifen aus dem Munde und starrten sie an. Der ihr zunächstsitzende Lappe klopfte ihr auf die Schulter und sagte auf schwedisch: »Gut! Gut!« Eine Lappenfrau schenkte eine große Tasse Kaffee ein, die ihr mit vieler Mühe hinübergereicht wurde, und ein Lappenjunge in ihrem Alter kroch zu ihr hinüber. Da blieb er liegen und glotzte sie an.
Sie erriet, daß Söderberg den Lappen erzählt haben mußte, wie sie das große Begräbnis für ihren Bruder, den kleinen Mads veranstaltet hatte, aber sie saß da und wünschte, daß er nicht so viel von ihr erzählen möge, sondern die Lappen fragen wollte, ob sie nichts von ihrem Vater wüßten. Der kleine Wicht hatte gesagt, daß er sich bei den Lappen aufhalte, die ihr Lager westlich vom Luossojaure aufgeschlagen hätten, und da hatte sie um Erlaubnis gebeten, mit einem Kieszug da hinauf zu fahren – denn richtige Züge gingen noch nicht auf der Bahn – um nach ihrem Vater suchen zu kommen. Alle, die Aufseher wie auch die Arbeiter taten ihr Bestes, um ihr zu helfen, und in Kiruna hatte ein Ingenieur Söderberg, der Lappisch sprechen konnte, mit ihr über den See geschickt, um sich nach dem Vater zu erkundigen.
Sie hatte gehofft, daß sie ihn treffen würde, sobald sie hier ankäme, und sie hatte ein Gesicht nach dem andern im Zelt angesehen, konnte aber gar nicht in Zweifel sein, daß sie alle dem Lappenvolk angehörten. Der Vater war nicht unter ihnen.
Sie sah, daß die Lappen und Söderberg immer ernsthafter wurden, je länger sie miteinander redeten, und die Lappen schüttelten die Köpfe und klopften sich an die Stirn, als sprächen sie von jemand, der nicht ganz bei Verstand sei. Da wurde sie so unruhig, daß sie es nicht länger aushalten konnte, still zu sitzen und zu warten, und sie fragte Söderberg, was die Lappen von ihrem Vater wüßten.
»Sie sagen, er ist fortgegangen, um zu fischen,« antwortete der Arbeiter. »Sie wissen nicht, ob er heute abend noch ins Lager zurückkommt, aber sobald das Wetter ein wenig besser wird, will einer von ihnen ausgehen und nach ihm suchen.«
Dann wandte er sich wieder an die Lappen und sprach eifrig mit ihnen weiter. Er wollte offenbar nicht, daß Aase noch mehr Fragen über ihren Vater an ihn richtete.
*
Am nächsten Morgen war schönes Wetter. Ola Serka selbst, der vornehmste unter den Lappen, hatte gesagt, er wolle ausgehen und nach Aases Vater suchen. Aber er beeilte sich nicht; er kauerte vor dem Zelte, dachte an Jon Assarson und überlegte, wie er ihm die Nachricht beibringen sollte, daß seine Tochter gekommen war, um ihn zu suchen. Es handelte sich nämlich darum, dies so zu bewerkstelligen, daß Jon Assarson nicht erschrak und entfloh, denn er war ein sonderbarer Mann, den der Anblick von Kindern bange machte. Er pflegte zu sagen, ihn befielen so trübe Gedanken, wenn er sie sähe, und das könne er nicht ertragen.
Während Ola Serka hierüber nachdachte, saßen das Gänsemädchen Aase und Aslak, der Lappenjunge, der am vorhergehenden Abend vor ihr gelegen und sie angeglotzt hatte, auf dem freien Platz vor dem Zelt und plauderten miteinander. Aslak war zur Schule gegangen und konnte Schwedisch sprechen. Er erzählte Aase von dem Leben der Lappen und versicherte sie, daß sie besser dran seien als alle andern Menschen. Aase fand, daß ihr Leben schrecklich sei, und das sagte sie. »Du weißt nicht, was du sprichst,« sagte Aslak. »Bleibe nur eine Woche bei uns, und du wirst sehen, daß wir das glücklichste Volk auf der ganzen Erde sind.«
»Wenn ich noch eine Woche hierbleibe, so fürchte ich, daß ich von all dem Rauch da drinnen im Zelt erstickt werde,« sagte Aase. – »So darfst du nicht reden,« sagte der Lappenjunge. »Du weißt nichts von uns. Ich will dir eine Geschichte erzählen, daraus kannst du sehen, daß du immer lieber bei uns sein wirst, je länger du hier bist.«
Und dann begann Aslak, Aase von der Zeit zu erzählen, wo die große Krankheit, die man den schwarzen Tod nannte, durch das Land ging. Er wußte nicht, ob sie hier oben in dem richtigen Lappland, wo sie sich jetzt befanden, gewütet hatte, aber in Jämtland hatte sie so arg gehaust, daß alle Lappen, die dort im Gebirge und in den Wäldern wohnten, bis auf einen Jungen von fünfzehn Jahren gestorben waren, und von den Schweden, die in der Flußtälern wohnten, blieb auch nur ein Mädchen am Leben, das ebenfalls fünfzehn Jahre alt war.
»Der Junge und das Mädchen waren einen ganzen Winter in dem öden Lande umhergewandert, um nach Menschen zu suchen, und als der Frühling kam, stießen sie endlich aufeinander,« erzählte Aslak weiter. »Da bat das schwedische Mädchen den Lappenjungen, mit ihr südwärts zu ziehen, damit sie zu Leuten ihres eigenen Stammes kämen. Sie wolle nicht in Jämtland bleiben, wo alles ausgestorben war. ›Ich will dich führen, wohin du willst,‹ sagte der Junge, ›aber nicht vor dem Winter. Jetzt ist es Frühling, und du weißt, daß wir, die wir zu dem Lappenvolk gehören, dahin gehen müssen, wohin unsere Rentiere uns führen.‹
Das schwedische Mädchen war das Kind reicher Eltern. Sie war daran gewöhnt, unter einem Dach zu wohnen, in einem Bett zu schlafen und an einem Tisch zu essen. Sie hatte die armen Gebirgsbewohner immer verachtet und meinte, daß die, so da unter offenem Himmel wohnten, sehr unglücklich sein müßten. Aber sie fürchtete sich, in ihr Heim zurückzukehren, wo nichts war als tote Menschen. ›Ja, dann laß mich aber mit dir auf die Berge hinaufziehen,‹ sagte sie zu dem Jungen, ›dann brauche ich doch nicht hier allein umherzuwandern, ohne je eine menschliche Stimme zu hören.‹ Darauf ging der Junge gern ein, und so kam es, daß das Mädchen die Renntiere auf ihrer Wanderung ins Gebirge begleitete. Die Herde sehnte sich nach den guten Bergweiden und legte an jedem Tage eine lange Strecke zurück. Da war keine Zeit, ein Zelt aufzuschlagen. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich auf den Schnee zu werfen und ein wenig zu ruhen, während die Renntiere Rast machten, um zu weiden. Die Tiere fühlten den Südwind durch ihren Pelz wehen; sie wußten, daß er im Laufe weniger Tage den Schnee von den Berghängen wegfegen würde. Das Mädchen und der Junge mußten ihnen durch schmelzenden Schnee und über brechendes Eis nacheilen. Als sie endlich so hoch ins Gebirge hinaufgekommen waren, daß der Nadelwald aufhörte, und die verkrüppelten Birken begannen, rasteten sie einige Wochen und warteten, daß der Schnee auf den obersten Berghalden schmelzen sollte; dann zogen sie da hinauf. Das Mädchen jammerte, keuchte und stöhnte und sagte wieder und wieder, sie sei müde, sie müsse umkehren und wieder ins Tal hinabsteigen, aber sie ging trotzdem lieber mit als daß sie allein blieb, ohne eine Menschenseele, mit der sie ein Wort sprechen konnte.
Als sie die Gebirgsebene erreicht hatten, schlug der Junge auf einem schönen, grünen Platz, der zu einem Gebirgsbach sanft abfiel, ein Zelt für das Mädchen auf. Am Abend fing er die Renntierkühe mit einer Wurfleine ein, molk sie und gab ihr Renntiermilch zu trinken. Er fand auch ein wenig Renntierkäse und getrocknetes Renntierfleisch, das seine Leute, als sie im vorigen Sommer dort lagerten, oben auf dem Berge versteckt hatten. Aber das Mädchen jammerte immer und war nie zufrieden. Sie wollte weder Renntierkäse noch getrocknetes Renntierfleisch essen, auch wollte sie keine Renntiermilch trinken. Sie konnte sich nicht darin finden, im Zelt zu kauern oder im Freien mit ein paar Zweigen unter sich und nur mit einem Renntierfell bedeckt, zu schlafen. Aber der Sohn des Gebirgsvolks lachte nur über all ihr Gejammer und fuhr fort, gut gegen sie zu sein.
Nach Verlauf einiger Tage kam das Mädchen zu dem Jungen, als er dasaß und die Renntiere molk und bat, ob sie ihm nicht helfen dürfe. Sie übernahm es auch, Feuer unter dem Kessel anzuzünden, wenn Renntierfleisch gekocht werden sollte, Wasser zu tragen und Käse zu machen. Nun kam bald eine schöne Zeit, das Wetter war warm, und es war leicht, Essen zu beschaffen. Sie gingen zusammen aus und legten Vogelschlingen, fischten Lachsforellen in den Bächen und pflückten Multebeeren in den Mooren.
Als der Sommer vorüber war, zogen sie so tief vom Gebirge herab, daß sie die Grenze zwischen Nadel- und Laubwald erreichten. Dort schlugen sie wieder ihr Lager auf. Es war jetzt Schlachtzeit, und sie mußten jeden Tag hart arbeiten, aber es war auch eine gute Zeit, denn sie konnten sich noch bessere Nahrung verschaffen als im Sommer. Als der Schnee kam und das Eis anfing, die Seen zu bedecken, zogen sie weiter ostwärts in den dichten Tannenwald hinab. Sobald sie ihr Zelt errichtet hatten, begannen sie mit den Winterarbeiten. Der Junge lehrte das Mädchen, Fäden aus Renntiersehnen zu drehen, die Felle zu