Karl kommt auf ein anderes Ergebnis. Irgendwann vor ein paar Jahren schloss sich der Kreis. Nach ewigen Gedanken kam er zu der Erkenntnis und dem bekannten Satz: 'Ich weiß, dass ich nichts weiß.' Denn das ist so. Man kann niemals alles wissen. Dazu müsste man ja alle Meinungen aller Menschen kennen - und wie soll das bitte gehn?! Jeder kann nur begrenzt Dinge wissen. Egal, wie viel er nachdenkt und egal, was er alles erkennt und in Erfahrung bringt. Als er erkannte, dass er so gesehen nichts wissen kann, war sehr viel Wissensdurst plötzlich gestillt. Weil das einfach so ist. Ja, das würde ihm sehr gefallen, wenn die Menschen mal die Fresse halten könnten, denkt Karl.Nur weil sie reden können, muss das nicht heißen, das man es den ganzen Tag hirnlos tun muss. So. Jetzt hat er es gedacht! Karl ist mit sich zufrieden. Plötzlich kommt ihm ein neuer Gedanke. Der Umstand aber, dass es womöglich oder anscheinend keine endgültige(n) Wahrheit(en) oder vollendeten Gedanken gibt , entbindet uns nicht davon, zu versuchen, sie zu finden respektive zu denken. sonst würde ja das denken unter den Menschen aufhören, jedenfalls das kreative denken, das denken um des Denkens willen. Denn denken als Mittel zum Zweck, also im weitesten Sinne das technische Denken, kann sowieso jeweils erfolgreich abgeschlossen, sozusagen vollendet werden. die Erkenntnis, dass es keine endgültige Wahrheit gebe, wird allzu oft dazu benützt, um Menschen , die eigenständige, originelle Gedanken äußern, mundtot zu machen und die eigene Geistlosigkeit zu legitimieren. Bei der Gelegenheit steht derjenige zudem noch gut da, da er kein anmaßender Korinthenkacker sei, sondern ein cooler Realist. Man soll wiederum aber auch nicht etwa äußern, dass es keine letzten Wahrheiten gebe, da es ja auch schon eine unumstößliche Wahrheit wäre. Langer Rede kurzer Sinn, man sollte durchaus versuchen, Gedanken zu Ende zu denken. Allzu viele Menschen getrauen sich das gar nicht erst, so bleiben sie gefangen in den zahlreichen Vorurteilen, Halbwahrheiten und Allgemeinplätzen. Ein Gedanken muss immer zu Ende gedacht werden. Dabei würde man schon jede Menge neuer Erkenntnisse gewinnen bis man schließlich mit seinem logischen Latein am Ende wäre und in eine Sackgasse hineinmanövriert wird, da wieder herauszukommen Mithilfe eines erlösenden Gedankens, wäre der nächste, dritte und letzte, kreative Denkschritt. Seine Aufforderung erst zu reden, wenn er seine Gedanken zu Ende gedacht hat, auch wenn es dieses eigentlich nicht gibt, er also tatsächlich nur zu einer vorläufigen Schlussfolgerung mit seinem Nachdenken gelangt, bedeutet nicht, nun damit aufzuhören, ganz im Gegenteil; er sollte das Nachdenken intensivieren und nur die vorschnellen Äußerungen limitieren.
Karl ist mit sich ganz zufrieden. Er hat seine Krankheiten im Griff. Wenn er zum Arzt geht, dann nur wenn er wirklich muss. Der Arztbesuch ist ihm zuwider. Er mag diese Menschen nicht, die denken, dass sie Götter sind. Überheblichkeit zeichnet den modernen Arzt aus.
Einige Krankheiten können nicht oder nur eingeschränkt behandelt werden. Die Pharmaindustrie hat nicht an allen Krankheiten Interesse. Das Interesse kommt mit dem möglichen Profit. Eine Krankheit mit vielen Patienten, dass ist es was die Pharmaindustrie möchte, da ist der Profit hoch, der Einsatz gering. Was sie noch möchte ist, dass sie ihre Leute als Vortragende an den Universitäten einsetzen kann. Eine überaus effektive Werbung! Und die Ärzte werben auch für Medikamente, manchmal offen, manchmal versteckt, so wird der Patient zum Versuchskaninchen, meist ohne es zu wissen.
Deshalb hält sich Karl bei seinen Arztbesuchen zurück. Er kennt die Problematik und er möchte ihr ausweichen, sie umgehen. Er denkt, ein kurzer Arztbesuch ist völlig ausreichend. Was er auch ist. Ärzte sind Unternehmer, sie betreiben eine Firma, die anders funktioniert als ein Glühlampengeschäft. Diese muss Werbung machen, muss die Ware anbieten, muss eine Leistung erbringen. Beim Arzt verhält es sich völlig anders. Die Patienten kommen von alleine, sie suchen Hilfe. Der Arzt verrichtet dann eine Dienstleistung, er verschreibt ein Medikament, das hoffentlich auch hilft. Ganz sicher ist das allerdings nicht. Nicht bei jedem wirkt das Medikament. Wenn ein Wirkungsgrad von 80 Prozent vorliegt, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein ganz ausgezeichnetes Medikament handelt.
Auch aus diesem Grund weigert sich Karl alle Medikamente zu nehmen, die ihm verschrieben werden. Jedes Medikament belastet den Körper, je weniger Medikamente er einnimmt, desto gesünder lebt er.
Der Arzt ist noch ganz jung, gerade mit seiner Ausbildung fertig geworden. Sie begrüßen sich.
"Was gibt's Neues?", fragt der Arzt und er sieht sich den Akt des Patienten im Computer an.
Er ist nicht wirklich interessiert, es ist eine Standartfrage. Karl antwortet: "Nichts Neues." Auch eine Standardantwort. Es geht recht rasch, Blutabnahme, Blutdruckmessen, und schon ist er fertig. "Rezepte?", fragt der Arzt. "Natürlich", antwortet Karl. "Was brauchen Sie?" Und Karl zählt auf. Die Liste ist nicht lang. Nach fünf Minuten ist alles vorbei. Karl geht. Er ist froh, den Arztbesuch hinter sich zu haben.
Karl fährt nach Hause. Er ist müde. Um 5 Uhr früh ist er aufgestanden. Wenn er nach Hause kommt wird es nach 14 Uhr sein. Die Wartezeit zu kalkulieren ist nicht einfach. Er hat es eilig. Er hat eine Annonce aufgegeben. Eine Partnerschaftsangebote. Vielleicht ist eine Antwort da, es würde ihm freuen.
3
Darwins Theorie zufolge sind wir das aktuelle Endprodukt der natürlichen Selektion. Die natürliche Selektion beschreibt er als einen natürlichen Prozess um die Stärksten überleben zu lassen. Keine andere Spezies als der Mensch hat sich bisher so radikal selbst selektiert. Der Mensch selektiert nicht nur selbst, er versucht auch verzweifelt sich selbst auszurotten. Was bedeutet das? Bedeutet es wir sind im Grunde die schlechteste Entwicklung der Natur? Oder stecken wir irgendwo in der Pubertät der Evolution, da wir offensichtlich immer noch am selektieren sind? Karl denkt, dass letzteres ist naheliegend ist. Zu viele Kriege, zu viele bewaffnete Konflikte, zu viel Elend, zu viel Not. Es ist schon seltsam, denkt Karl, kaum wird irgendwo bombardiert, gibt es kaum jemand der zurückhaltend agiert. Wenn Hunger herrscht und die Bevölkerung versorgt werden muss, wird plötzlich über die Kosten diskutiert.
Was für eine verrückte Welt ist das?, fragt sich Karl.
Es ist wirklich eine Nachricht in deinem Postfach. Von Dudu. Es ist eine kurze Nachricht, nur einige Worte lang. Trotzdem freut er sich. Es ist nicht einfach, mit seinem Alter und seinen Krankheiten jemanden zu finden, mit dem er und sie auskommen können. Natürlich ist ihm klar, dass er und sie Abstriche machen müssen. Wer alt geworden ist hat seine Schrullen, die kann er nicht so einfach ablegen. Das Leben hat ihm gezeichnet. Ein jeder kann es sehen. Sein Gesicht ist eingefallen, die Backenknochen stehen hervor, die Augen liegen tief in ihren Höhlen. Er weiß es, er ist nicht schön anzusehen. In seinem Alter kommt es auch gar nicht mehr so sehr aufs Aussehen an, es geht vielmehr darum ein Mensch mit Charakter zu sein.
Karl setzt sich vor dem Computer, schreibt eine Antwort. Noch ist diese Person ihm völlig fremd. Im Moment kennt er nur ihren Namen: "Dudu". Wer immer sich dahinter verbergen mag, dass muss er herausfinden. Das wird nicht einfach werden, denkt sich Karl. Noch macht er sich keine Sorgen. Eine unbekannte Person, wer weiß schon, wie lange dieser Kontakt halten wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Kontakt nach einigen Nachrichten abbricht. Einige Frauen hatten ein Bild verlangt, das er gerne gesendet hatte. Meist war es so, dass nach dem senden seines Bildes der Kontakt abbrach. Irgendwie fand Karl es auch lustig. Nach den ersten Mails waren die Frauen meist begeistert von ihm, lobten ihn, als den Mann den sie schon immer haben wollten, den sie schon immer suchten, bisher nicht gefunden hatten. Und dann das Bild. Kein Kontakt mehr, Abbruch. Zuerst hat es ihm geärgert, dass muss er schon zugeben, aber schließlich musste er