Absurd. Ben Knüller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ben Knüller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738031300
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wir völlig groteske und fiktive Zeitungsartikel, nur damit der jeweils andere sie vorlesen und dabei lachen konnte. Das war eine gute Zeit. Vielleicht bekomme ich dich irgendwann nochmal für eine Kooperation vor die Schreibmaschine, alter Freund.

      Kurzgeschichten sind wie ein nahendes Gewitter, ungewiss und unheilvoll. Passen Sie besser auf, nicht nass, geschweige denn von einem Blitz getroffen zu werden. Nehmen Sie meine Hand, am besten gehen wir zusammen. Einen Schirm habe ich übrigens nicht. Aber ich kann Sie zum einsamen Baum dort bringen. Stellen wir uns unter und warten. Das wird ein böses Gewitter!

      Schuhe!

      Seth Peters war kein sonderlich gläubiger Mensch (hier und da mal ein Stoßgebet, aber das war’s dann auch), doch in einem Punkt war er sich sicher: Schuhe sind Werke des Teufels. Das wusste er mit Bestimmtheit, denn seine Freundin Lisa war eine – wie er es gerne sagte – „Schuhfetischistin“. Keine Woche verging, in der sie nicht breit grinsend mit mindestens zwei Schuhkartons unter den Armen nach Hause kam. Das waren nur im Ernstfall Sonderangebote – meistens handelte es sich um teure Designer-Dinger. Hässlich wie die Nacht, Schmerzen verursachend, aber im dreistelligen Bereich und mit Stil. Das war generell ihr bestes Argument, wenn sie ihrem fassungslosen Freund neue Schuhe präsentierte: sie hatten Stil. Und nur das zählte.

      Wie oft wurden Seth und Lisa von Freunden eingeladen? Oft spontan, meistens zu solch simplen Sachen wie Bowling oder McDonalds. Orte, wo man die Seele baumeln lassen konnte. Seth hatte für solche Anlässe ausgefranste Turnschuhe in der hintersten Ecke seines Schrankes zu stehen. Ja, sie rochen nach alten Socken, und ja, sie hatten einen Klettverschluss (etwas, das ihm häufig als kindisch und blöd vorgeworfen wurde), aber mein Gott, man ging doch auch nicht zu einer Hochzeit!

      Lisa war da anders. Sie brauchte erst mal eine Stunde, um die passenden Schuhe zu finden.

      Gefielen sie ihr, musste man eine halbe Stunde einrechnen, bis die Schuhe an den Füßen waren.

      Gefielen sie ihr nicht, sagte man besser schon mal den Freunden ab.

      Seth erkundigte sich eines Tages über Sinn und Zweck, einfachen Schuhen so eine Bedeutung beizumessen. Es war einer dieser Abende, an denen Lisa nicht aus dem Knick kam, und er saß mit seinen Turnschuhen im Sessel. „Nicht jeder muss freiwillig als Penner rumlaufen“, sagte sie mit einem abwertenden Lächeln und blickte auf seine ausgeleierten Botten.

      Mit diesen Schuhen hatte er bereits im zarten Alter von Dreizehn den Sportplatz bezwungen, und es passte ihm gar nicht, überhaupt nicht, dass sie so über seine Freunde herzog.

      Ihre finanzielle Situation war unterdurchschnittlich. Seths Vater bangte um seine Existenz, und Seth ließ sich dazu überreden, etwas Geld zu schicken. Arthur Peters war Angestellter in einer Radiergummifabrik, die über die Jahre hinweg über immer größere Verluste klagte. „Unsere Konkurrenz hat jetzt Bleistifte mit Radiergummis im Angebot“, hatte Arthur in einem wehleidigen Ton am Telefon gesagt. „Und da können wir nicht mithalten.“

      Seth und Lisa mussten fortan auf einige Dinge verzichten, um die Miete bezahlen zu können. Seth ließ sich von seiner Freundin sogar dazu überreden, einen abendlichen Nebenjob anzunehmen. Von sechs Uhr Abends bis Mitternacht wusch er die Teller in einem chinesischen Restaurant, begleitet von einem kaputten Radio, das alle zehn Minuten einfach ausging. Unterhaltungen mit seinen Kollegen liefen meist darauf hinaus, dass er kein Wort verstand, aber das war nicht weiter schlimm.

      Schlimm war es, als er den Briefumschlag mit seinem ersten Gehalt nicht wiederfinden konnte. Unter dem Sofa war er nicht, unter dem Bett auch nicht, und Seth war kurz davor, einen hysterischen Heulkrampf zu bekommen. Da ging die Wohnungstür auf, und Lisa stolzierte herein wie die Königin von Schweden, unter dem linken Arm einen Schuhkarton. Er fragte, wo sein Geld sei. Sie fragte, was er mit seinem Geld meine. Sie habe einen Briefumschlag mit Geld auf dem Bett gefunden, und sich sehr über dieses Geschenk gefreut. So sehr, dass sie sich für die neuen, teuren Schuhe, die sie unter dem Arm hielt, sogar noch etwas aus der Haushaltskasse genommen hatte.

      Seth schrie. Er schrie ihr keine direkten Worte entgegen, er schrie einfach. Als das erledigt war, rannte er an ihr vorbei durch die Wohnungstür. Er verbrachte den restlichen Nachmittag in dem kleinen Park hinter ihrem Haus, bemerkte nach etwa zehn Minuten, dass er nur schwarze Socken trug, und zuckte mit den Schultern. Später ging er zum China-Restaurant.

      „Du hast doch gekündigt“, bemerkte der Inhaber.

      „Ja“, sagte Seth tonlos.

      „Willst du Job wiederhaben?“

      „Ja“

      Bis um zwei stand er an der Spüle und arbeitete in einem unheimlichen Tempo. Seine Hände waren wund gescheuert, die Haut riss an einigen Stellen auf und schwoll an. Na und? Es tat gut, Schmerzen zu haben. Der Schmerz kämpfte gegen das Feuer in seinem Herzen. Ich hasse Schuhe, dachte er, immer und immer wieder. Ich hasse Schuhe, ich hasse sie, ich hasse Schuhe…

      Auf dem Heimweg arbeitete sein Kopf, schlug ihm absonderliche Dinge vor und wurde nicht müde zu betonen, dass er – Seth – sich rächen musste. Irgendwie. Zunächst malte er sich abenteuerliche Szenarien aus, die ihn irgendwann an Filmszenen erinnerten. Lisa, die in einem Jutesack zappelt und darauf wartet, vergraben zu werden. Lisa, die versehentlich ausrutscht und vom Balkon fällt. Lisa, die sich wundert, wo ihr Freund plötzlich die Axt herhat.

      Nein. Nein, das konnte er nicht machen. Unter Kopfschmerzen musste er sich eingestehen, dass er sie trotzdem noch liebte und begehrte. Solche Taten ließen sich leicht denken, und natürlich zauberten sie ein Lächeln auf sein Gesicht, aber die Realität sah anders aus.

      Da fiel ihm etwas anderes ein. Er konnte etwas töten, das sie liebte.

      Es war ein Samstag, und Lisa musste arbeiten. Sie stand um Sechs auf, verbrachte eine Lebenszeit im Bad und verließ wortlos die Wohnung. Seth hatte auf dem Sofa genächtigt, ohne Decken, ohne Kissen, und er hatte keine einzige Minute geschlafen. Als die Wohnungstür zufiel, sprang er wie ein Kastenteufel auf, schob den Riegel vor die Tür und hechtete ins Schlafzimmer. Aus irgendwelchen Gründen, die ihm selbst nicht ganz bewusst waren, zog er die Vorhänge zu und streifte sich die schwarzen Handschuhe über, die er für den nahen Winter parat hatte.

      Dann sah er den Wandschrank an.

      In einer kranken Form von Evolution hatte er Lisa immer mehr Platz in diesem Schrank zugestanden. Anfangs war alles fachgerecht aufgeteilt; er besaß die linke Seite des Schrankes, sie die rechte. Leise und schleichend nahmen ihre Sachen immer mehr Platz ein, verdrängten Seths Kleidungsstücke und zwangen ihn schließlich dazu, seine Anzüge in derselben Schublade aufzubewahren wie seine Socken.

      Er öffnete den Schrank, leise, als könnte ihn jemand hören. Sofort stieß ihm der Geruch von Parfüm, neuer Kleidung und Frau entgegen und ließ seine Augen tränen. Er konnte sich kaum sattsehen an der bunten Vielfalt von Kleidern, Hosen, Röcken, Strumpfhosen und… Schuhen. Diese nahmen den ganzen Boden und zwei weitere Schubfächer ein. All diese Schuhkartons, überall die verschiedenen Markennamen, überall Trauer und Leid.

      Seine Hände wühlten herum, schoben Sachen beiseite und wühlten weiter. Beinahe wäre er in Panik verfallen, da er ihn zuerst nicht fand, doch unter einem schlampigen Haufen oft getragener Tops entdeckte er den Schuhkarton, den sie bei ihrem letzten großen Einkauf siegesbewusst unter dem Arm getragen hatte. Er nahm den Deckel ab und erblickte ein Paar hochhackiger Schuhe, dunkelblau. Die Marke überflog er wie Spam in einer Mail. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Lisa ihm sogar den Lebenslauf des Designers darlegen konnte, ohne eine Atempause zu gebrauchen.

      Seth kicherte diabolisch. Er drückte den Karton an seine Brust, hastete ins Wohnzimmer und zum Balkon. Der war nicht sonderlich groß, erfüllte aber seinen Zweck. Sie hatten freie Sicht auf den kleinen Park, den er gestern zwecks Beruhigung besucht hatte. In diesen frühen Morgenstunden war niemand zu sehen. Das war gut. Es war fantastisch.

      Der Grill stand trotz der einziehenden Kälte noch wacker seinen Mann. Kein neumodisches Elektrozeug, nein Sir, richtig viel Kohle, richtig