Johanna Danneberg
Bis ins Hochland, dann nach links
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel Eins
Erst viel später ist mir klar geworden, dass alle Menschen, die ich auf meiner Wanderung treffen sollte, schon an jenem ersten Spätnachmittag mit mir im Pub in Milngavie saßen. Bloß, dass ich die meisten von ihnen damals gar nicht beachtet hatte. Darin war ich ziemlich gut - niemanden zu beachten außer mir selbst.
Aber von vorne: angekommen in Schottland bin ich an einem Dienstagmittag im Mai, Flughafen Glasgow; von dort aus nahm ich einen Bus in die Innenstadt, um diese mit einem Nahverkehrszug wieder zu verlassen, und nur wenige Stunden nach der Landung des Flugzeugs fand ich mich in der Fußgängerzone einer Kleinstadt namens Milngavie wieder, und fragte mich zum wiederholten Male, wie man das eigentlich aussprach: „Milngavie“. Bei dem Schaffner im Zug hatte es geklungen wie ein Wort, das in einen Bottich Joghurt fällt.
Überhaupt, das schottische Englisch wies nur geringe Ähnlichkeit auf mit dem breit geknautschten Amerikanisch der Touristen, die in Berlin nach dem Weg zur „Wall“, zum Berghain oder zum nächsten Biosupermarkt fragen.
Berlin, meine Heimatstadt, war noch nie weiter weg gewesen. Stattdessen ein wohlwollender Nieselregen, die Fußgängerzone, und ein Wegweiser.
„Fort William: 96 miles“ stand dort. Dahinter führte eine Treppe hinunter zu einem Fußweg, der sich im regennassen Park verlor.
Über den Stufen der Treppe spann sich ein Schild, auf dem mit verschnörkelten Lettern stand: „West Highland Way“.
Das war er also, der Beginn des West Highland Way. Hätte durchaus ein bisschen dramatischer gestaltet sein können, fand ich. Mit Neonbuchstaben zum Beispiel. Oder einer Dudelsackkappelle - immerhin wandert man nicht alle Tage 96 Meilen durchs schottische Hochland.
Ich sah mich um. Dudelsäcke waren nicht in Sicht, und es trug auch niemand einen Schottenrock; dafür erledigten ganz normale Menschen ihre Feierabendeinkäufe.
Mit dem Handy filmte ich Wegweiser, Treppe, und zum Schluss mich selber, sah mir die Aufnahme an, und kam zu dem Schluss, dass ich der einzige Lichtblick in der trostlosen Szenerie war: meine hellblonden, fast weißen, kinnlangen Haare vom Wind zerzaust, ein paar Sommersprossen, die meinen Teint betonten, und natürlich hatte ich mein unwillkürliches Fotogesicht aufgesetzt: ein breites Grinsen ohne Zähne. Meine Schwester sagt, ich sähe dann aus wie ein Clown. Ich schickte das Filmchen an Falks Handy. Er würde es Lilly vorspielen, bevor er sie nachher ins Bett brachte. Nach kurzem Zögern sendete ich noch eine Textnachricht hinterher: „Bin gut angekommen. Gehe gleich los. Ein dicker Kuss an Lilly. Mella“
Danach steckte ich das Handy weg. Und ging nicht los. Feine Regentropfen wehten mir ins Gesicht, und ich zog den Fleecepulli über. Ein älterer Herr spazierte mit seinem Hund vorbei und nickte mir zu, als würden wir uns kennen.
„Wer früher losgeht, kommt eher an“, rief er mir mit rollendem „R“ zu.
Ob er hier wohl öfters Leute stehen sah, mit Wanderrucksack und Wanderstöcken, die sich vor dem Schild herumdrückten, als müssten sie gleich zur Matheprüfung? Ich sah an mir herunter, auf meine neuen lila Doc Martens, welche ich vergangene Woche extra eingelaufen hatte, ganz so, wie es im Reiseführer, „Der West Highland Way – Schottlands wildester Weg“, empfohlen wurde. Unter dem Pulli trug ich eine blau-weiß-gestreifte Bluse, und statt einer Hose schwarze Leggings und sandfarbene Shorts. Verzichtet hatte ich auf eine dieser Funktionshosen, die man in drei verschiedenen Höhen mittels Reißverschluss kürzen konnte, denn die fand ich furchtbar, da hatte ich mich geweigert, auch wenn meine Mutter mir dazu geraten hatte. Aber was wusste sie schon, ich hatte sie noch nie weiter wandern sehen als bis zum Italiener an der Ecke. Ekat hingegen, beste Freundin meiner Mutter und Patentante von mir und meiner Schwester, verfügte über mehr Expertise – Himalaya, Kilimandscharo, Elbsandsteingebirge und so weiter. Sie hatte gemeint, ich solle etwas Bequemes anzuziehen, worin ich mich wohl fühlte, denn ich würde das Zeug ja eine Woche lang ununterbrochen tragen. Ich hatte nachgehakt:
„Wie meinst du das, eine Woche ununterbrochen? Ich werde meine Klamotten ja auch mal wechseln.“, woraufhin sie mitleidig gelacht hatte. „Wenn du Zelt, Schlafsack, Isomatte, Gaskocher, Topf, Proviant, drei Liter Wasser, Zahnbürste und Zahnpasta, und den Wanderführer eingepackt hast, bleibt kein Platz mehr für Wechselklamotten. Mal abgesehen vom Gewicht. Mehr als 17, 18 Kilo sollten es nicht sein!“
Ekat hieß eigentlich Ekatarina, stammte aus Russland, und hatte mit meiner Mutter in den 1970er Jahren eine Wohngemeinschaft in Charlottenburg geteilt. Sie war eine Art moderne Schamanin, groß, hager, die Haare wuschelig kurz bis auf eine einzelne Dreadlocke, die hinter dem linken Ohr abstand. Sie schien immer in Bewegung zu sein und gleichzeitig alle Zeit der Welt zu haben. Ihrer Meinung nach lag das am Yoga und am Sex.
Ich hatte ihr nicht geglaubt, und noch zwei weitere Blusen (hellblau mit roten Sternen, waldgrün mit schwarzen Punkten), eine Skinny Jeans (wiegt ja fast nichts), mehrere Tops, eine leichte Strickjacke und ein Paar Turnschuhe auf den Haufen gepackt, auf dem ich letzte Woche alles gesammelt hatte, was mit sollte nach Schottland. Außerdem waren in meinem Rucksack noch sechs Unterhosen, dicke Socken und eine weitere Leggings gelandet, sowie Mütze und Regenjacke, Regenüberzug für den Rucksack, Taschenmesser und Kompass, eine karierte Campingdecke, rosa-weiß gepunktetes Plastikbesteck mit dazu passendem Teller und Schüssel, mein Tagebuch, Stift, Feuerzeug, Handy samt Ladekabel und Wechsel Akku, ein Paar Sandalen, ein Plastikbeutel mit dem nötigsten an Waschzeug (Shampoo, Conditioner, Duschbad) und Zahnpflegeartikeln, und ein echt kleines Handtuch. Das war's. Zusammen mit den beiden Wasserflaschen, sowie Haferflocken,