Die Nacht gehört den Liebenden. Carina Obster. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carina Obster
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738091885
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herumgetrieben war, die Szene taute auf, Rädchen setzten sich in Bewegung.

      »Ich kenne dich überhaupt nicht.«

      Mein Kopf glühte so stark, dass die Scheibe, an der ich lehnte, beschlug. Ich schaffte es gerade noch auf mein Bett, bevor das Blut herunterstürzte und flackernde Flächen von Nichts in meinem Schädel freilegte.

      Irgendwo da draußen begann ein neuer Song.

      Zwei

      »Wie sieht’s denn hier bei dir wieder aus?«

      Meine Mutter trat ins Zimmer und schob die Vorhänge ein wenig zur Seite. Das kalte Sonnenlicht von draußen ließ die Staubkörner glitzern, sie tanzten in einer exakten Quaderform, die das Licht durch einen Fensterausschnitt in die Zimmerluft projizierte. Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass das Licht auch auf mich fiel.

      »Und ganz gesund schaust du ja immer noch nicht aus!«

      Meine Mutter stellte den Plattenspieler ab, auf dem sich die Scheibe im Leerlauf drehte, endlos um sich selbst, ohne etwas von sich zu geben. Meine Mutter brachte etwas Unregelmäßiges, Asymmetrisches in diesen Raum, alles andere kreiste stetig um sich selbst, ich, die Platte, die Staubkörner, die Flüssigkeit im Becher auf dem Nachttisch. Auch mein Vater kreiste um sich selbst, wie ein stiller Planet, und er tat vielleicht gut daran, meine Mutter geheiratet zu haben, die ihn ab und zu von seiner einsamen Bahn lenkte.

      »Ach Benjamin, hast du schon wieder die Nacht durch gegrübelt? Ich hab dir gesagt, ein bisschen frische Luft würde dir guttun!«

      Sie öffnete das Fenster, und ich ärgerte mich, dass mich die sonnige Luft tatsächlich etwas aufmunterte. Nun würde ich aufstehen müssen. Während meine Mutter weiter fröhlich vor sich hin zwitscherte, begab ich mich ins Badezimmer. Ich trat zum Spiegel und starrte mir selbst in die Augen. Was stimmte nur nicht mit mir? Wieso hatte ich meine Gedanken schon wieder so weit zurückgreifen lassen? Vor mir baute sich ein Bild auf, so mühelos, dass ich es gar nicht weiter heraufbeschwören musste.

      Sie lehnte immer noch an der Blechtonne, ein Bein vors andere gestellt, ihre Rauchfontänen in die Luft sprühend. Die Flammen nahmen mich nun, je weiter ich auf sie zutrat, in ihren Bannkreis; das Prasseln des Feuers bedeckte meine Ohren vollständig, wie ein warmes Polster und wirkte nicht mehr so bedrohlich wie vorher, als es durch die Nacht rauschte. In meiner Begierde, ihr ganz in die Augen zu sehen, ging ich noch schneller und stand plötzlich vor ihr. Sie blinzelte; obwohl sie mich ja selbst mit ihrem Blick gefangen genommen hatte, schien sie kurz irritiert, ihren Gefangenen so dicht vor sich zu sehen. Sie wandte den Blick ab.

      »Willst du 'ne Zigarette?«

      Ich nickte und kam mir dabei vor wie ein hirnloser Voyeur, der vor Verzückung kein Wort herausbringt. Ich versuchte, dafür etwas Witziges zu sagen:

      »Stehst du öfter hier rum?«

      Sie steckte sich eine neue Zigarette an und gab sie mir. Dann steckte sie sich selbst eine an und malte damit Kreise in die Luft, die immer noch einen Moment dort hängen blieben. Sinnend starrte sie ihnen hinterher.

      »Immer, wenn ich unruhig werde.«

      Ich fragte sie, ob sie Lust hätte, in eine Bar zu gehen, und sie sagte ja. Auf dem Weg steckte sie sich noch zwei Zigaretten an. Falls es diese rebellisch-kaputte Geste des Zigarettenanzündens, wie man sie auf den Fernsehschirmen und Leinwänden sieht, in der Wirklichkeit gab, sie beherrschte sie in Perfektion; nachlässig die Zigarette in den Mundwinkel gesteckt, drehte sie ihr dünnes Handgelenk mit dem Feuerzeug und kniff dabei die Augen halb zusammen. Die Luft hinter ihr war stetig von Rauch erfüllt, man konnte ihren Weg wohl durch die ganze Stadt verfolgen.

      Wir gingen in meine Lieblingsbar, ein etwas schäbiges, kleines Ding, das in den Köpfen der meisten Stadtbewohner nur im Marginalen existierte, und ich war nicht überrascht, dass sie es auch kannte. Da das Wochenende gerade begonnen hatte, war die Bar verhältnismäßig voll von Leuten; sie lehnten an der Theke, neben den goldenen Zapfhähnen, die unberührt an ihnen vorbei funkelten. Wir setzten uns an einen freien Tisch, ich in die Ecke eines Sofas, sie mir gegenüber auf ein anderes. Ihre Augen fingen mich sofort wieder vollständig ein; Menschen wanderten außerhalb dieses Sogs, balancierten Gläser vorbei, schrien einander darüber hinweg etwas zu, und es war mir vollkommen gleichgültig, es war so verschwindend wichtig. Sie fragte mich etwas, und glücklicherweise wandte sie ihren Blick dabei auf einen Punkt in der Ferne, sonst hätte ich nicht antworten können.

      »Nein, ich wohn nicht hier in der Stadt, etwas weiter außerhalb«, sagte ich.

      Das Licht in dem roten Gefäß auf dem Tisch flackerte; sie sah hin und kniff wieder die Augen zusammen.

      »Weißt du, wie schön es ist, wenn man weint und dann die Augen halb schließt und ins Licht schaut? Man sieht plötzlich Hunderte Diamantensplitter«, meinte sie.

      Sie starrte eine Weile auf das Gefäß und ich wusste nicht, ob sie meine Antwort überhaupt wahrgenommen hatte. Gewöhnlich regte es mich auf, wenn die Leute nicht vollständig da waren und ihre Aufmerksamkeit in der ganzen Gegend verstreuten, doch bei ihr dachte ich gar nicht daran, dass es mich ärgern könnte; gerade weil sie ihren Blick nicht oberflächlich schweifen ließ, sondern ihn in die Substanz der Dinge zu bohren schien. Durch die großen Fenster glitten Autoscheinwerfer vorbei, die uns scannten, so fühlte es sich jedenfalls an. Auf dem roten Glas des Tisches sah man nur kurz einen flüchtigen, introvertierten Schein. Ich dachte mir, dass auch sie nur kurz aufleuchten würde, ohne ihr Innenleben, Knochen, die einander stützten, und dazwischen pulsierende Organe, preiszugeben.

      Ich dagegen war wahrscheinlich anders geartet. Ich zitterte unter dem prüfenden Schein und musste alles preisgeben, alles auf einmal. Man konnte meine Gefühle und Gedanken jederzeit problemlos einsehen, dachte ich; säuberlich und geordnet lagen sie in den Regalen meiner Brust. Bei ihr war überhaupt nichts geordnet, weder für die anderen noch für sie selbst. Sie war nicht einsehbar, nicht lesbar. In ihren Regalen lag alles durcheinander, Gefühle, die nicht zueinander kommen durften, lagen übereinander, nahmen sich gegenseitig den Platz weg, reagierten heftig, explosionsartig miteinander und niemand wusste, was da gerade miteinander reagiert hatte.

      Irgendwann hatte der Alkohol das Licht so verwischt, dass sich der rote Schein auf alle Dinge ringsum legte. Wir zogen weiter, über uns ein roter Abendstern.

      Eine recht heruntergekommene Bar ließ uns noch herein. Abgehalfterte, sehnige Typen lagen mit ihren Oberkörpern schon halb auf den Tischen, in der Hand das Glas umkrampft. Sie sahen aus wie magere Pferde nach einem langen Marsch in der Wüste.

      Sie grüßte den Barkeeper und es gab mir bereits einen leichten Stich, zu wissen, dass sie nicht ein freischwebendes Atom war, das ich gerade entdeckt hatte, sondern in ein Netz von Beziehungen eingespannt, mit anderen kollidiert war, reagiert hatte. Wir gingen über den fleckigen Boden nach hinten und setzten uns etwas abseits von den anderen neben das DJ-Pult. Der DJ wechselte dauernd zwischen Platten- und Servierteller hin und her; in einer anderen Situation und mit einer anderen Frau neben mir hätte mich das ziemlich nervös gemacht. Doch der rätselvolle rote Schein hatte sich an sie gehängt und tauchte alles in beruhigendes Licht.

      Auch die Gläser, mit Whiskey befüllt, die der Barkeeper vor uns hinstellte, nahmen den roten Glanz in sich auf. Es ist erstaunlich, wie weniger bedrängend die Welt hinter Glas besehen wirkt; ich sah durch meines hindurch und erblickte eine verschwommene Welt, Schemen ohne die stechenden Kanten von Gesichtern, in der Mitte zu einem Horizont verschmelzend. Ich erinnerte mich, wie ich früher hinter der geschlossenen Haustür im alten Haus meiner Eltern stand und durch die feinen Scheiben nach draußen in den Garten starrte, bis sich die Formen immer weniger auseinanderdividieren ließen.

      Aus den Lautsprechern neben uns heraus begannen Radiohead das verschlafene Intro von Creep. Der Bassist zupfte seine resignierten Saiten. „I wish I was special, you’re so fucking special.“ Etwas, das mich an diesem Song schon immer irritiert hatte, war, dass sich das Ich, obwohl es sich doch offensichtlich als „Spinner“ bezeichnete, nicht speziell, besonders fühlen konnte. Doch wieso nicht? Ich betrachtete uns beide,