Weihnacht von Karl May. Karl May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl May
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742752215
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Ärmste und kann nichts – – und doch, doch, ich kann auch etwas geben,

       wenn auch kein Geld wie du; paß nur auf!«

       Er bat um Schweigen, stellte sich neben den Baum und begann zu deklamieren:

       »Ich verkünde große Freude,

       Die Euch widerfahren ist,

       Denn geboren wurde heute

       Euer Heiland Jesus Christ – –«

       Wie kam es nur, daß mein eigenes Gedicht mir so fremd vorkam, so, als ob es nicht von mir,

       sondern von einer ganz andern Person, einem ganz andern Wesen stamme? Je weiter er

       sprach, desto fremder kam es mir vor und desto tiefer griff es mir in die Seele hinein. Auch

       die andern hörten voller Andacht zu. Der Greis verwendete keinen Blick von dem Redner;

       seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. War das der Reflex

       des brennenden Weihnachtsbaumes? Oder war es der Schein einer höhern Klarheit, welche

       jetzt sein Herz erleuchtete? Er breitete die auf dem Tische liegenden Hände auseinander und

       öffnete sie, als ob er, sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung aufrichtend und den

       vorher so müden Kopf hoch hebend, eine unsichtbare, von oben kommende Gabe ergreifen

       und festhalten wolle. Er hörte fast ohne Atem zu, richtete sich, als Carpio geendet hatte,

       langsam auf, so daß er kräftig und kerzengerade am Tische stand, und bat:

       »Noch einmal das letzte, noch einmal! Oh bitte, wiederholen Sie es von da an, wo der Priester

       spricht!«

       Carpio kam diesem Wunsche nach, und es war mir auch jetzt wieder, als ob es nicht meine,

       sondern die Worte eines andern seien:

       »Und der Priester legt die Hände

       Segnend auf des Toten Haupt:

       ›Selig, wer bis an das Ende

       An die ewge Liebe glaubt!

       Selig, wer aus Herzensgrunde

       Nach der Lebensquelle strebt

       Und noch in der letzten Stunde

       Seinen Blick zum Himmel hebt!

       Suchtest du noch im Verscheiden

       Droben den Erlösungsstern,

       Wird er dich zur Wahrheit leiten

       Und zur Herrlichkeit des Herrn.

       Darum gilt auch dir die Freude,

       Die uns widerfahren ist,

       Denn geboren wurde heute

       Auch dein Heiland Jesus Christ!‹« – –

       Da legte der Alte die ausgebreiteten Hände wieder ineinander, sank auf den Stuhl zurück,

       schloß, indem ein seliges Lächeln über sein Gesicht ging, die Augen und wiederholte leise,

       doch so, daß wir sie hörten, die Worte:

       »Darum gilt auch dir die Freude, – – die uns widerfahren ist, – – denn geboren wurde heute –

       – auch dein Heiland Jesus Christ! Das gilt auch mir – – mir – – – mir! Ich habe ihn gesucht –

       gesucht – gesucht – – und heut ist er gekommen! Ich sehe ihn; ich sehe seinen Stern; ich sehe

       das Licht, welches da leuchtet auf den Feldern von Bethlehem! Und wie war das, wie? Ich

       meine das, was Simeon sagte, als er im Tempel den Heiland sah.«

       Ich nickte Carpio zu, und dieser antwortete:

       »Herr, nun lässest du in Frieden

       Deinen Diener zu dir sehn,

       Denn sein Auge hat hienieden

       Deinen Heiland noch gesehn!«

       »Ja, ja, so ist es; ich sehe ihn!« fuhr der Alte fort, noch immer geschlossenen Auges. Er

       bewegte die Lippen wieder wie früher, jetzt aber nicht betend; das sah man deutlich; er schien

       nach Worten zu suchen, nach Worten, welche er gehört hatte und in ihrem Zusammenhange

       nicht wiederfinden konnte. Dann fragte er: »Und wie, wie heißt es in dem Gedichte von dem

       Sünder? Wie sagte er, als er um Erbarmen flehte?«

       Diesesmal antwortete Carpio, ohne meinen Wink erst abzuwarten:

       »Betend faltet er die Hände,

       Hebt das Auge Himmel an:

       ›Vater, gieb ein selig Ende,

       Daß ich ruhig sterben kann!

       Blicke auf dein Kind hernieder,

       Das sich sehnt nach deinem Licht;

       Der Verlorne naht sich wieder;

       Geh mit ihm nicht ins Gericht!‹« – –

       »Blicke auf dein Kind hernieder,« wiederholte der Greis,- – »das sich sehnt nach deinem

       Licht; – – der Verlorne naht sich wieder; – – geh mit ihm nicht ins Gericht! – – – Nicht, nein,

       nein! – – nicht ins Gericht!« rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem

       angstvollen Blicke rund um sich starrte. Dann schloß er sie wieder; der Ausdruck der Angst

       verschwand; ein leises, uns zu Herzen gehendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und

       dann kam es flüsternd und immer leiser und langsamer werdend über seine Lippen: »Suchtest

       du noch im Verscheiden – – droben den Erlösungsstern – – wird er dich zur Wahrheit leiten –

       – und zur Herrlichkeit des Herrn – –! Wahrheit – – Herrlichkeit, oh Herrlichkeit – –! Ich bin

       müde; ich will schlafen, schlafen gehen – – schlafen gehen – – schlafen!«

       Er legte den Kopf hintenüber und ließ ihn dann zur Seite nach der Schulter fallen.

       »Mein Gott, er stirbt – er stirbt!« sagte der Wirt besorgt.

       »Nein, er stirbt nicht,« beruhigte ihn die Frau. »Er ist nur müde von dem weiten, schweren

       Wege und von der innern Erregung jetzt. Er hat oft solche doppelte Müdigkeit. Aber schlafen

       muß er jetzt. Bitte, sagen Sie mir, wohin ich ihn bringen soll!«

       »Bringen? Sie werden ihn tragen müssen?«

       »Halb geht er, und halb halte ich ihn.«

       »Ich werde Ihnen helfen. Wir haben oben eine Stube mit drei Betten. Ihr Sohn mag dort das

       Licht nehmen!«

       Sie griffen dem Alten unter die Arme und zogen ihn empor; er kam wieder zu sich und schritt,

       von ihnen unterstützt, doch ohne die Augen zu öffnen, zur Thür hinaus. Als ich nun mit

       Carpio allein war, sagte dieser:

       »Das war eine unerwartete Weihnachtsfeier, unerwartet und ergreifend, wie ich noch keine

       erlebt habe! Aber, Sappho, was sagst du dazu? Diese Leute sind keine gewöhnlichen Leute;

       ich glaube nicht, daß sie dem gewöhnlichen, dem Arbeiterstande angehören.«

       Der allerwegs zerstreute Freund pflegte dergleichen Beobachtungen sonst nicht zu machen;

       ich war ganz seiner Ansicht, erkundigte mich aber:

       »Warum denkst du das?«

       »Sie haben eine Weise, sich auszudrücken, welche auf einen bessern als den gewöhnlichen