Jenseits von Gut und Böse. Friedrich Wilhelm Nietzsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Wilhelm Nietzsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783750290174
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Alles Gravitätische, Schwerflüssige, Feierlich-Plumpe, alle langwierigen und langweiligen Gattungen des Stils sind bei den Deutschen in überreicher Mannigfaltigkeit entwickelt, – man vergebe mir die Tatsache, daß selbst Goethes Prosa, in ihrer Mischung von Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme macht, als ein Spiegelbild der »alten guten Zeit«, zu der sie gehört, und als Ausdruck des deutschen Geschmacks, zur Zeit, wo es noch einen »deutschen Geschmack« gab: der ein Rokoko-Geschmack war, in moribus et artibus. Lessing macht eine Ausnahme, dank seiner Schauspieler-Natur, die vieles verstand und sich auf vieles verstand: er, der nicht umsonst der Übersetzer Bayles war und sich gerne in die Nähe Diderots und Voltaires, noch lieber unter die römischen Lustspieldichter flüchtete – Lessing liebte auch im Tempo die Freigeisterei, die Flucht aus Deutschland. Aber wie vermöchte die deutsche Sprache, und sei es selbst in der Prosa eines Lessing, das Tempo Macchiavells nachzuahmen, der, in seinem principe, die trockne, feine Luft von Florenz atmen läßt und nicht umhin kann, die ernsteste Angelegenheit in einem unbändigen allegrissimo vorzutragen: vielleicht nicht ohne ein boshaftes Artisten-Gefühl davon, welchen Gegensatz er wagt – Gedanken, lang, schwer, hart, gefährlich, und ein Tempo des Galopps und der allerbesten mutwilligsten Laune. Wer endlich dürfte gar eine deutsche Übersetzung des Petronius wagen, der, mehr als irgendein großer Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in Erfindungen, Einfällen, Worten – was liegt zuletzt an allen Sümpfen der kranken, schlimmen Welt, auch der »alten Welt«, wenn man, wie er, die Füße eines Windes hat, den Zug und Atem, den befreienden Hohn eines Windes, der alles gesund macht, indem er alles laufen macht! Und was Aristophanes angeht, jenen verklärenden, komplementären Geist, um dessentwillen man dem ganzen Griechentum verzeiht, daß es da war, gesetzt, daß man in aller Tiefe begriffen hat, was da alles der Verzeihung, der Verklärung bedarf – so wüßte ich nichts, was mich über Platos Verborgenheit und Sphinx-Natur mehr hat träumen lassen als jenes glücklich erhaltene petit fait: daß man unter dem Kopfkissen seines Sterbelagers keine »Bibel« vorfand, nichts Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches – sondern den Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten – ein griechisches Leben, zu dem er Nein sagte – ohne einen Aristophanes! –

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      Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein – es ist ein Vorrecht der Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte dazu, aber ohne es zu müssen, beweist damit, daß er wahrscheinlich nicht nur stark, sondern bis zur Ausgelassenheit verwegen ist. Er begibt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren, welche das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht die kleinste ist, daß keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, vereinsamt und stückweise von irgendeinem Höhlen- Minotaurus des Gewissens zerrissen wird. Gesetzt, ein solcher geht zugrunde, so geschieht es so ferne vom Verständnis der Menschen, daß sie es nicht fühlen und mitfühlen – und er kann nicht mehr zurück! er kann auch zum Mitleiden der Menschen nicht mehr zurück! – –

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      Unsere höchsten Einsichten müssen – und sollen! – wie Torheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubterweise denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. Das Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern, kurz überall, wo man eine Rangordnung und nicht an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte – das hebt sich nicht sowohl dadurch voneinander ab, daß der Exoteriker draußen steht und von außen her, nicht von innen her, sieht, schätzt, mißt, urteilt: das Wesentlichere ist, daß er von unten hinauf die Dinge sieht – der Esoteriker aber von oben herab! Es gibt Höhen der Seele, von wo aus gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken; und, alles Weh der Welt in eins genommen, wer dürfte zu entscheiden wagen, ob sein Anblick notwendig gerade zum Mitleiden und dergestalt zur Verdopplung des Wehs verführen und zwingen werde?... Was der höheren Art von Menschen zur Nahrung oder zum Labsal dient, muß einer sehr unterschiedlichen und geringeren Art beinahe Gift sein. Die Tugenden des gemeinen Manns würden vielleicht an einem Philosophen Laster und Schwächen bedeuten; es wäre möglich, daß ein hochgearteter Mensch, gesetzt, daß er entartete und zugrunde ginge, erst dadurch in den Besitz von Eigenschaften käme, derentwegen man nötig hätte, ihn in der niedern Welt, in welche er hinabsank, nunmehr wie einen Heiligen zu verehren. Es gibt Bücher, welche für Seele und Gesundheit einen umgekehrten Wert haben, je nachdem die niedere Seele, die niedrigere Lebenskraft oder aber die höhere und gewaltigere sich ihrer bedienen: im ersten Falle sind es gefährliche, anbröckelnde, auflösende Bücher, im andern Heroldsrufe, welche die Tapfersten zu ihrer Tapferkeit herausfordern. Allerwelts-Bücher sind immer übelriechende Bücher: der Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo das Volk ißt und trinkt, selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen gehen, wenn man reine Luft atmen will. –

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      Man verehrt und verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der Nuance, welche den besten Gewinn des Lebens ausmacht, und muß es billigerweise hart büßen, solchergestalt Menschen und Dinge mit Ja und Nein überfallen zu haben. Es ist alles darauf eingerichtet, daß der schlechteste aller Geschmäcker, der Geschmack für das Unbedingte, grausam genarrt und gemissbraucht werde, bis der Mensch lernt, etwas Kunst in seine Gefühle zu legen und lieber noch mit dem Künstlichen den Versuch zu wagen: wie es die rechten Artisten des Lebens tun. Das Zornige und Ehrfürchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine Ruhe zu geben, bevor es nicht Menschen und Dinge so zurechtgefälscht hat, daß es sich an ihnen auslassen kann – Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrügerisches. Später, wenn die junge Seele, durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich endlich argwöhnisch gegen sich selbst zurückwendet, immer noch heiß und wild, auch in ihrem Argwohn und Gewissensbisse: wie zürnt sie sich nunmehr, wie zerreißt sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen sei! In diesem Übergange bestraft man sich selber, durch Mißtrauen gegen sein Gefühl; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, ja man fühlt schon das gute Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als Selbst-Verschleierung und Ermüdung der feineren Redlichkeit; und vor allem, man nimmt Partei, grundsätzlich Partei gegen »die Jugend«. – Ein Jahrzehnt später: und man begreift, daß auch dies alles noch – Jugend war!

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      Die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch – man nennt sie die prähistorische Zeit – wurde der Wert oder der Unwert einer Handlung aus ihren Folgen abgeleitet: die Handlung an sich kam dabei ebensowenig als ihre Herkunft in Betracht, sondern ungefähr so, wie heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande vom Kinde auf die Eltern zurückgreift, so war es die rückwirkende Kraft des Erfolgs oder Misserfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder schlecht von einer Handlung zu denken. Nennen wir diese Periode die vormoralische Periode der Menschheit: der Imperativ »erkenne dich selbst!« war damals noch unbekannt. In den letzten zehn Jahrtausenden ist man hingegen auf einigen großen Flächen der Erde Schritt für Schritt so weit gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die Herkunft der Handlung über ihren Wert entscheiden zu lassen: ein großes Ereignis als Ganzes, eine erhebliche Verfeinerung des Blicks und Maßstabs, die unbewußte Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werte und des Glaubens an »Herkunft«, das Abzeichen einer Periode, welche man im engeren Sinne als die moralische bezeichnen darf: der erste Versuch zur Selbst-Erkenntnis ist damit gemacht. Statt der Folgen die Herkunft: welche Umkehrung der Perspektive! Und sicherlich eine erst nach langen Kämpfen und Schwankungen erreichte Umkehrung! Freilich: ein verhängnisvoller neuer Aberglaube, eine eigentümliche Engigkeit der Interpretation kam eben damit zur Herrschaft: man interpretierte die Herkunft einer Handlung im allerbestimmtesten Sinne als Herkunft aus einer Absicht; man wurde eins im Glauben daran, daß der Wert einer Handlung im Werte ihrer Absicht gelegen sei. Die Absicht als die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer Handlung: unter diesem Vorurteile ist fast bis auf die neuste Zeit auf Erden moralisch gelobt, getadelt, gerichtet, auch philosophiert worden. – Sollten wir aber heute nicht bei der Notwendigkeit angelangt sein, uns nochmals über eine Umkehrung und Grundverschiebung der Werte schlüssig zu machen, dank einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des Menschen, –