„Wo liegt das Opfer?“, fragte der den Nachbarn zuerst erreichende Polizist.
„Dort ist Frau Langes Wohnung“, antwortete dieser und wies mit dem Arm hinauf zur geschlossenen Wohnungstür.
Der vom Nachbarn bereits verständigte Hausmeister stand mit dem Schlüssel in der Hand wartend davor.
Während die beiden Polizisten nach oben stürmten, begannen deren Kollegen, den Bereich vor dem Haus abzusperren, wo sich bereits erste Schaulustige einfanden.
Ein Polizist schob die vom Hausmeister aufgeschlossene Tür zur Wohnung der Frau Lange vollständig auf und ging, dicht gefolgt von seinem Kollegen, hinein. Einen flüchtigen Blick durch die offenen Zimmertüren werfend durchquerten sie den Flur, bis der voran Gehende den Körper des Opfers auf dem Fußboden des Wohnzimmers liegend fand. Vorsichtig, um vom Täter möglicherweise hinterlassene Spuren nicht zu zerstören, betrat er das Zimmer und kniete neben Frau Lange nieder, fasste mit Zeige- und Mittelfinger an ihren Hals, um den Puls zu fühlen, sah dann aber sofort seinen schon ersten Eindruck bestätigt, dass Frau Lange tot war und zog sich deshalb wieder zurück.
„Da ist nichts mehr zu machen“, erklärte er dem Kollegen, der in der Tür stehend den Vorgang beobachtet hatte.
Beide verließen die Wohnung und trafen im Treppenhaus wieder auf den Nachbarn, der einige Worte mit dem Hausmeister wechselte.
„Haben Sie das Opfer gefunden?“, fragte ein Polizist.
„Nein, gab der zurück. „Es war die Tochter von Frau Lange. Sie sitzt bei mir in der Wohnung. Sie ist völlig aufgelöst.“
Inzwischen erreichten auch der Notarzt und die Ersthelfer aus dem Krankenwagen das Obergeschoss.
„Hier entlang bitte!“, wies ein Polizist den Weg. „Seien Sie aber bitte vorsichtig, damit wir der Spurensicherung nicht ins Handwerk pfuschen!“
„Natürlich!“, gab der Notarzt kurz zurück und eilte zusammen mit den Ersthelfern an den Polizisten vorbei in die Wohnung des Opfers. Wenige Augenblicke später erschien er zurück, erneut von den Ersthelfern gefolgt.
„Das Opfer ist zweifelsohne tot. Wir können medizinisch nicht mehr helfen. Sind Ihre Kollegen von der Kripo unterwegs?“
„Ja, sie sind informiert und müssten eigentlich jeden Moment hier sein.“
„Die Tochter des Opfers hat die tote Mutter gefunden“, ergänzte er. „Sie befindet sich in der Wohnung des jungen Mannes hier und ist verständlicherweise völlig aufgelöst, wie er sagt. Vielleicht schauen Sie mal nach ihr?“
„Ja, selbstverständlich, wo ist Ihre Wohnung, junger Mann?“
„Gleich dort gegenüber. Gehen Sie bitte ganz durch bis ins Wohnzimmer!“
Hastigen Schrittes gingen der Notarzt und die Ersthelfer zur nachbarlichen Wohnung hinüber und verschwanden sogleich darin, wobei der Notarzt mehrfach hallo rief, um seine Patientin schneller zu finden.
Als die Spurensicherung eintraf, hatten sich bereits zahlreiche Menschen im Treppenhaus versammelt, über Stufen und Absätze verteilt und von den beiden uniformierten Polizisten auf sichere Distanz zu Frau Langes Wohnung gehalten.
Erst als die Spurensicherung ihre Arbeit schon aufgenommen hatte, erschienen zwei Kripobeamte, denen offenbar die Ermittlungen übertragen worden waren, und ließen sich zunächst von den beiden uniformierten Kollegen über die Vorgänge in Kenntnis setzen, um sich dann in die Wohnung zu begeben und sich ein Bild vom Tatort zu verschaffen.
„Wahrscheinlich von hinten erschlagen, Herr Brauer“, wurde der eine Beamte von einem Kollegen der Spurensicherung in der Wohnung angesprochen. „Als Tatwaffe dürfte wohl diese kleine Bronzefigur eingesetzt worden sein“, ergänzte er, während er auf einen am Rand der Tischplatte stehenden etwa zwanzig Zentimeter großen massiven Kobold wies.
„Wann in etwa dürfte es zu der Tat gekommen, wann also dürfte der Tod eingetreten sein?“, fragte der Angesprochene, der etwa Mitte vierzig sein konnte.
„Kann ich nicht sagen. Wir warten noch auf den Mediziner, der uns seine erste Einschätzung abgeben kann.“
„Okay, ich warte erst mal ab, was uns der Bericht über das Ergebnis der Spurensicherung bringt“, erwiderte der Kripobeamte und wandte sich seinem Kollegen zu.
„Hier wird es für uns im Moment nicht viel geben. Ich werde mal sehen, ob ich mit der Tochter sprechen kann. Sorg du doch bitte in der Zwischenzeit dafür, dass wir ein vollständiges Bild über die Hausbewohner erhalten und hör dich mal um, ob jemand in den letzten vierundzwanzig Stunden etwas Besonderes bemerkt oder beobachtet hat. Und versuch über die Nachbarn auch festzustellen, wer sich außer den Bewohnern bekannterweise in den letzten vierundzwanzig Stunden im Haus aufgehalten hat, wer also auch besuchsweise hier war!“
Im Gehen verpasste er seinem Kollegen, der ebenfalls die Mitte seines Lebens erreicht haben durfte, allerdings im Gegensatz zu dem Beamten Brauer bereits erheblich ergraut war, einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm.
Als er im Treppenhaus erschien, wurde Nina Lange gerade, gestützt von zwei Helfern der Krankenwagenbesatzung und vom Notarzt begleitet, aus der Nachbarwohnung geführt.
„Nun machen Sie doch bitte Platz!“, herrschte ein Helfer mehrere Umstehende an, die nicht genügend Durchgang freigaben.
„Eine Frage bitte!“, rief der Kripobeamte dem Notarzt zu, während er sich ihm zwischen verschiedenen Personen hindurch näherte. „Die junge Frau ist die Tochter des Opfers?“
„Ja, bestätigte der. „Es tut mir leid, aber ich habe jetzt keine Zeit für Sie. Ich muss meine Patientin in die Klinik begleiten!“
„Was meinen Sie, wann kann ich mich mit ihr unterhalten?“
Der Arzt blieb nun doch stehen, während Nina von den beiden Helfern die Treppe hinab geführt wurde.
„Im Augenblick ist an eine Unterhaltung nicht zu denken! Sie sehen ja, in welchem Zustand sie sich befindet. Morgen wird man weiter sehen und besser abschätzen können, wann Frau Lange für ein Gespräch zur Verfügung stehen kann.“
Er nickte, drehte sich ab und wollte soeben seiner Patientin und den Helfern folgen, wurde dann aber vom Kripobeamten am Ärmel gezupft und hielt deshalb nochmals kurz inne, wobei er dem Polizisten strafend ins Gesicht sah.
„Wohin bringen Sie Frau Lange?“
„Wir bringen sie in die Städtischen Krankenanstalten.“
Erika Langes Nachbar stand inzwischen etwas abseits und befand sich in einem verhaltenen Gespräch mit zwei weiteren jungen Männern. Brauer nahm ihn zur Seite.
„Sie sind Herr?“, fragte er und zog das Wort Herr in der Erwartung in die Länge, dass ihm sein Gegenüber seinen Namen nennen würde.
„Wolkat, Steffen Wolkat heiße ich“, tat der ihm den Gefallen.
„Herr Wolkat, ist Ihnen in den vergangenen vierundzwanzig Stunden etwas Besonderes aufgefallen, haben Sie etwas Auffälliges gesehen oder gehört?“
„Nein, es war absolut alles wie immer. Das habe ich Ihrem Kollegen aber alles schon erzählt.“
„Gut, dann sagen Sie bitte, können Sie mir etwas über den Umgang der Frau Lange erzählen, über Besuche und so weiter? Wenn man Tür an Tür wohnt, bekommt man doch ein bisschen voneinander mit.“
„Da muss ich Sie mehr oder weniger enttäuschen. Wir wohnen“, er brach ab, um sich zu verbessern. „Wir wohnten zwar in Nachbarwohnungen, aber wir hatten trotzdem, von Zufälligkeiten einmal abgesehen, nichts miteinander zu tun.“
„Wie lange haben sie nebeneinander gewohnt?“, fragte Brauer nach.
„Ich wohne seit mehr als zwei Jahren hier. Als ich eingezogen bin, da war die Frau Lange schon da.“
„In mehr als zwei Jahren haben Sie nichts vom Leben Ihrer Nachbarin mitbekommen?“, fragte der Polizist ungläubig, fast schon