Sich einen Namen machen
Schlapp und restlos vom Nachexerzieren ausgebrannt, hatte Karl gleich nach dem Mittagessen zwei Stunden tief und fest geschlafen. Noch etwas benommen stand er vom Bett auf, zog die Turnhose über, machte den Oberkörper frei und ging zum Fenster. Er beugte sich hinaus und atmete mehrmals tief durch. Die Luft war warm und schmeckte nach dem Harz der Kiefern.
Unerwartet öffnete sich die Stubentür. Ein junger Leutnant, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt, mit stattlicher Figur, hatte die Stube betreten. Horst Fläming, der am Tisch geschrieben hatte, sprang auf und schrie: „Achtung!”
Sein Schemel kippte polternd auf die Dielen. Karl drehte sich ruckartig um. Die Kameraden in den Betten sprangen von ihrem Lager, noch bevor der Leutnant lächelnd sagte: „Weitermachen!”
Der Leutnant war mindestens einsachtzig groß, schlank, mit eng ansitzender Uniform. Er hatte einen schmalen Schädel, blondes Haar und blaue Augen. Er schien – jedenfalls nach der Rassenlehre – der Idealtyp des Ariers zu sein. Seine blauen Augen tasteten über die strammstehenden Kameraden hinweg. Plötzlich blieben sie an Otto Krüger hängen und leuchteten auf. Krügers Gesicht drückte Verwunderung aus, als er den Leutnant die Hand reichte.
Der Leutnant hatte die Mütze abgesetzt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Warum setzen wir uns eigentlich nicht”, bemerkte er, sich die Lippen leckend. Er forderte die Männer auf, ebenfalls am Tisch Platz zu nehmen. Aus einer Seitentasche seines Uniformrockes zog er eine Schachtel „Güldenring”, eine der teuersten Zigarettensorten, legte sie auf den Tisch und bat die Rekruten zuzugreifen.
Mit Genuss zündeten sich die Raucher diese „edle” Sorte an und sogen genüsslich an dem Kraut, als wäre es ein Opiat. Entspannt bogen sich die rauchenden Jünglinge mit dem Glimmstengel zwischen den Lippen zurück und bliesen träumerisch den Rauch zur Decke.
„Na, Otto”, lachte der Leutnant Krüger an, „ist mein Auftauchen nicht eine tolle Überraschung.
„Und ob”, bestätigte Krüger, „mit deinem Erscheinen, auf dieser Stube, hätte ich nie und nimmer gerechnet.”
Sie plauderten über ihre gemeinsame Vergangenheit in Rostock. So erfuhren die Stubengefährten, dass sie in Rostock nebeneinander gewohnt hatten. Krüger war zwei Jahre jünger. In den ersten Kinderjahren besuchten sie dieselbe Schule und hatten viele Streiche gemeinsam ausgeheckt. Später trennten sich ihre Wege.
„Scherzer“, so hieß der Leutnant, besuchte das Gymnasium, wurde Scharführer in der Hitlerjugend und hatte sich nach dem Abitur freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Er hatte sich für die Offizierslaufbahn entschieden.
Krüger beabsichtigte nach dem Krieg im alten Beruf als Buchdrucker wieder zu arbeiten.
Plötzlich platzte Krüger mit der Frage heraus: „Sag mal, Hasso”, dabei sah er dem Leutnant streng ins Gesicht, „ist es bei den Preußen normal, dass ein simpler Unteroffizier Rekruten bis zum Verrecken scheuchen kann wie ein Ochsenknecht stupides Vieh?”
Der Leutnant lachte. „Habt ihr etwa bei Dämonitzki ,nachstrahlen’ müssen?”
„Genau”, antwortete Krüger, „und ich frage dich, Hasso, was bewegt einen solchen Barbaren, Soldaten so erbarmungslos zu schinden und bis aufs Blut zu quälen?”
Die Augen des Leutnants begannen zu funkeln. Mit bissiger Miene blickte er in die Runde und fragte: „Haben Sie schon einmal von den Sieben Weltwundern gehört?”
Zustimmung allerseits.
„Eines dieser Weltwunder”, erklärte er, „war der Tempel der Göttin Artemis in Ephesos. Der Tempel ging im Jahre 356 vor Christus in Flammen auf. Zur Brandstiftung, so erzählt die Legende, bekannte sich ein gewisser Herostratos. Bei der Befragung, warum er den Brand gelegt habe, antwortete er, ,Ich wollte mir einen Namen machen’. Verstehen Sie, in Dämonitzki spukt der Gedanke, Vorgesetzte wie Rekruten sollen ihn bis an ihr Lebensende im Gedächtnis behalten.”
Erregt fragte Karl: „Kann man diesen Peiniger nicht in den Arm fallen?”
„Man könnte”, erwiderte der Leutnant und lächelte weise, „aber niemand ist daran interessiert. Im Gegenteil, solch tumbe Wüteriche werden bewusst gefördert, weil sie die notwendige Härte für den Kampf an der Front erzeugen.”
„Härte”, entgegnete Karl, „wird doch nicht durch Menschenverachtung erzeugt. Ich bin entrüstet. Ich frage Sie, Herr Leutnant, sollte man unseren Führer nicht von der Schmach unterrichten, die uns angetan, damit diesen unmenschlichen Barbaren das Handwerk gelegt wird?”
Wie ein „Panther“ vor dem Sprung, beugte sich der Leutnant über den Tisch. In seinen Augen glühten winzige Flammen. Und für einen Augenblick glaubte Karl sogar seine Zähne mahlen zu hören. Mit krauser Stirn und scharfer Zunge fauchte er: „Was auch immer in der deutschen Wehrmacht geschieht, Rekrut, geschieht im Namen des Führers. Seine Befehle sind Gesetz und Grundlage aller Handlungen der Offiziere und Unteroffiziere des Regiments. Merken Sie sich das, Panzerschütze!”
Nachdem er sich in der Stille, die nach seinen Worten entstanden war, eine Zigarette angezündet hatte, fuhr er mit harter Stimme fort: „Und wer sich über die hohen Forderungen der Ausbildung mokiert, sich auflehnt, weil sie ihm zu brutal erscheinen oder sogar dagegen hetzt, der bekommt die ganze Härte unserer Gesetze zu spüren. Ohne Pardon wird gegen Miesmacher und Defätisten vorgegangen. Schon mancher hat dann wegen Wehrkraftzersetzung vor dem Kriegsgericht gestanden. Und viele wurden standrechtlich exekutiert. Hören Sie meinen Rat: Schnauze halten und bis zum siegreichen Ende diszipliniert durchhalten und dienen.”
Damit hatte er Karls Ansinnen auf eine Beschwerde beim Kompaniechef gegen Dämonitzki abgeschmettert. Karl erkannte plötzlich, was er bis dahin nicht wahrhaben wollte – sie waren Muschkoten, völlig rechtlos, und auf Gedeih und Verderb solchen Vorgesetzten wie Dämonitzki ausgeliefert!
„Schauen Sie”, fuhr inzwischen der Leutnant fort, „für den siegreichen Waffengang, der einem Todeskampf gleichkommt, muss sich der Soldat in der Etappe das Rüstzeug für den Sieg holen. Hier in den Reservekompanien werden die künftigen Helden geformt, die im schrecklichsten Schlamassel der Front keinen Augenblick an den Tod denken, sondern nur ein Ziel kennen: Den Feind besiegen und vernichten! Und dieser Kampfesmut wird hier anerzogen, mit dem schonungslosesten Drill, wo die Gutmütigkeit und die liebe Seele restlos ausgekotzt wird.”
Der Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion
In jener schicksalsträchtigen Nacht vom 21. zum 22. Juni l941, als ein neues Kapitel des Krieges begann, hatte Karl wie ein Murmeltier im tiefsten Winter geschlafen. Was ihn aus dem Schlaf riss, wusste er später nicht mehr zu sagen. Aber auf dem Flur gab es ein lautes Poltern. Danach hörte er hastige Schritte und lautes Sprechen. Karl sah zum Fenster. Über den Wipfeln der Bäume begann der Tag zu leuchten. Tiefe Atemzüge vernahm er aus den Nachbarbetten.
Verschlafen lauschte er den Stimmen, konnte aber nichts verstehen. Er hätte die Süße des Schlafes mit seinem wundersamen Zustand der Ruhe auch weiterhin gern genossen. In dieser Sekunde wurde die Tür aufgestoßen.
Kraftvoll ertönte die Stimme des Gruppenführers von der Türschwelle:
„Nachtruhe beenden! – Herhören!”
Karl fuhr hoch. Auch die Kameraden richteten sich blitzschnell auf, rieben sich die Augen.
„Panzerschützen! Die wichtigste Meldung dieses Krieges”, rief der Gruppenführer und setzte leidenschaftlich und erregt fort: „Vor wenigen Minuten, Kameraden, meldete der Großdeutsche Rundfunk aus dem Führerhauptquartier den Einmarsch deutscher Heeresverbände in das bolschewistische Russland.”
Mit einem Schlag waren alle hellwach. Diese Nachricht versetzte Karl in einen seltsamen Zustand. Mit einem Angriff auf das perfide England hatte er jederzeit gerechnet, nicht aber mit dem Einmarsch ins russische Reich, mit dessen Führung Deutschland doch einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte. War der Vertrag etwa gekündigt worden?
Schon